Schwierige Verhandlungen beim EU-Gipfel Scheitern nicht ausgeschlossen

Stand: 22.06.2007 11:06 Uhr

Es ist die Stunde des "Beichtstuhlverfahrens". Auf dem EU-Gipfel hat Kanzlerin Merkel Einzelgespräche über die Reform der Gemeinschaft aufgenommen. Beim Abendessen zum Auftakt des Gipfels hatte sich gezeigt, dass die Gegner des geplanten EU-Vertrags vorerst hart bleiben. Nun soll unter vier Augen ausgelotet werden, wer zu welchem Preis nachgeben könnte.

Die Verhandlungen zu einer umfassenden Reform der Europäischen Union treten auf der Stelle. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel hat Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Reihe von Einzelgesprächen begonnen, um den Widerstand einzelner EU-Staaten zu überwinden. Dieses "Beichtstuhlverfahren" wird bei EU-Gipfeln angewandt, wenn sonst kein Fortschritt zu erreichen ist. Am Vormittag traf Merkel erneut mit Polens Präsident Lech Kaczynski zusammen. Beide hatten bereits in der der Nacht über einen Ausweg aus dem Reformstreit beraten. Dabei war auch Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy zugegen, um die Ratspräsidentin zu unterstützen.

Essen ohne Ergebnisse

Zuvor hatten die Gipfelteilnehmer ihre Positionen während eines gemeinsamen Abendessens abgesteckt. Dabei erwies sich, dass die Gegner des von vielen Mitgliedstaaten gewünschten EU-Vertrags vorerst bei ihrer Ablehnung einzelner Bestandteile bleiben. Merkel erklärte, es seien noch "keine Ergebnisse zu verkünden".

Einige der offenen Fragen seien "recht kompliziert" und von "hochpolitischer Natur", sagte Merkel anschließend "Sie rief die EU-Staaten erneut eindringlich auf, zu einem Kompromiss zu kommen. Wie wahrscheinlich eine Einigung sei, könne man noch nicht sagen. Auch ein Scheitern des letzten Gipfels unter ihrem Vorsitz schloss Merkel nicht aus.

Die "doppelte Mehrheit"
Mit dem Reformvertrag wird ein neues Abstimmungsverfahren im EU-Ministerrat, der Vertretung der Mitgliedsstaaten, eingeführt - und damit ein Kernpunkt der von Frankreich und den Niederlanden abgelehnten EU-Verfassung aufgenommen.

Für Beschlüsse soll eine "doppelte Mehrheit" nötig sein: Die Stimmen von mindestens 55 Prozent der Staaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Ziel ist, einen Ausgleich zwischen bevölkerungsreichen Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien und den kleinen wie Dänemark, Irland oder Malta zu schaffen. Das mittelgroße Polen hatte dem Vertragsentwurf ursprünglich zwar zugestimmt, sah sich danach jedoch benachteiligt. Polen verlangte zwischenzeitlich eine "Quadratwurzel"-Regelung. Dabei wird das Stimmrecht eines Landes ermittelt, indem die Wurzel aus seiner Bevölkerungszahl gezogen wird.
Die 27 EU-Länder einigten sich beim Gipfel nach langen Verhandlungen darauf, das Abstimmungsverfahren der doppelten Mehrheit ab 2014 mit einer Übergangzeit bis 2017 einzuführen.

Nach Angaben des luxemburgischen Regierungschefs Jean-Claude Juncker machten vor allem Polen und Großbritannien weiter Probleme. Warschau und London hatten vor dem Gipfel mit ihrem Veto gegen zentrale Elemente eines neuen EU-Vertrags gedroht, der die gescheiterte Verfassung ersetzen soll.

"Harte Verhandlungen"

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sprach von "harten Verhandlungen". Etwas optimistischer zeigte sich die polnische Außenministerin Anna Fotyga: Es gebe Vorschläge, die in die Richtung der polnischen Forderungen gingen, sagte sie nach den Gesprächen, ohne Details zu nennen. Diese Initiativen bedürften aber noch der Diskussion. "Die Atmosphäre war nicht die von Drohungen, sondern die Atmosphäre von Verständnis", sagte Merkel mit Blick auf Kritiker wie Kaczynski.

Polen stört sich vor allem an dem in der EU-Verfassung vereinbarten Verfahren der doppelten Mehrheit bei Entscheidungen im EU-Ministerrat. Danach erfordern EU-Beschlüsse eine Mehrheit von 55 Prozent der Staaten, die 65 Prozent der Bevölkerung auf sich vereinen. Polen fühlt sich hierdurch gegenüber Deutschland benachteiligt.

Nach einer Meldung des polnischen Rundfunks hat die polnische Regierung inzwischen vorgeschlagen, die derzeitige Stimmverteilung bis 2020 weiter gelten zu lassen. Eine solche Entscheidung dürfte von der Regierung als Erfolg gewertet werden, da Polen im EU-Rat derzeit überproportional vertreten ist. Die gescheiterte EU-Verfassung sah eine Änderung der Stimmverhältnisse vor, um die Gemeinschaft nach ihrer Osterweiterung handlungsfähig zu halten.

London mehr als sein eigener Fürsprecher?

Doch nicht nur die polnische Haltung dämpft die Erwartungen an das Treffen in Brüssel: Auch der scheidende britische Premierminister Tony Blair konnte nach Angaben eines Sprechers zunächst nicht viel Bewegung auf seinem letzten EU-Gipfel feststellen. Großbritannien sei aber "nicht isoliert", unterstrich der Sprecher. "Wir sind nicht die einzigen, die Probleme haben. Es geht auch um die Niederländer, die Franzosen sowie die Polen."

London will unter anderem verhindern, dass der neue EU-Vertrag britische Hoheitsrechte untergräbt. So ist Großbritannien etwa gegen den neuen Posten eines EU-Außenministers.

Zweckoptimisten und Pragmatiker

Optimistischer zeigte sich der französische Präsident Nicolas Sarkozy: Er berichtete von einem "starken Willen zu einem Kompromiss". Auch der italienische Ministerpräsident Romano Prodi äußerte die Hoffnung auf "substanzielle Fortschritte".

Hintergrund: Das Ringen um die EU-Verfassung

Merkel will beim Gipfel einen einstimmigen Beschluss über eine Regierungskonferenz erreichen, die den neuen EU-Vertrag bis zum Jahresende ausarbeiten soll. Damit könnte der neue Vertrag theoretisch noch vor den Europawahlen im Sommer 2009 in Kraft treten. Die EU mit nunmehr 27 Mitgliedstaaten ringt um eine Reform, seitdem die Verfassung vor gut zwei Jahren bei Franzosen und Niederländern durchfiel.