Sachsen-Anhalt "Ein bisschen Angst hatten wir schon": Wie eine Familie 1989 in die DDR rübergemacht hat
Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Danach ging es Schlag auf Schlag. Der Grenzzaun wurde immer löchriger. Auch zwischen Mattierzoll in Niedersachsen und Hessen im damaligen Landkreis Halberstadt war das nach wenigen Tagen der Fall. Entlang einer alten Fernverkehrsstraße wurde dort die Grenze am Morgen des 12. November 1989 geöffnet. Doch bereits einen Tag zuvor feierte ein damals 45-jähriger Niedersachse seine ganz persönliche Grenzöffnung.
Der alte Beobachtungsturm bei Mattierzoll ist mit Graffiti übersäht. Zwei Fensterscheiben sind eingeworfen. Ein paar Meter weiter wurde ein Stück Grenzanlage wiederaufgebaut. Der Rasen drum herum ist gepflegt. Ein Findling liegt hier mit der Aufschrift "12. Nov. 1989". Es ist der Tag, an dem die innerdeutsche Grenze an dieser Stelle offiziell geöffnet wurde.
Ein älterer Herr schaut nachdenklich, schüttelt mit dem Kopf, als er den Zustand des Turms sieht. Dieter Erhard ist genau dort unterwegs, wo er vor genau 35 Jahren schon einmal war. Damals war er 45 Jahre alt und arbeitete bei der Stadtverwaltung von Wolfenbüttel in Niedersachsen. Die Grenzöffnung in Berlin war gerade zwei Tage her, und die Staus an den wenigen Grenzübergängen waren riesig. Schnell wurden öffentlich Forderungen nach mehr Grenzübergängen laut.
Mit der Familie zum Grenzübergang
Dieter Erhard ist in einem Nachbarort von Mattierzoll groß geworden. Er weiß, die Straße hier in Mattierzoll war einst eine wichtige Fernstraße. Wenn ein neuer Grenzübergang eröffnet würde, wäre das sicher eine erste Wahl, glaubte er damals. So stand Dieter Erhard dann am 11. November 1989 gegen Mittag mit Ehefrau und dem achtjährigen Sohn auf niedersächsischer Seite am Grenzzaun und wartete, dass etwas passiert.
Dieter Erhard war damals der Erste, der die Grenze von Mattierzoll kommend überquerte.
Ein paar andere Neugierige seien auch dort gewesen, erinnert sich der heute 80-Jährige an den Tag. Beamte des Bundesgrenzschutzes seien auch vor Ort gewesen. Die hätten aber versucht, sie fortzuschicken. Es würde nichts passieren an dem Tag, hätten sie gesagt, so Erhard. Doch dann entdeckte der Mann aus Wolfenbüttel ein offenes Tor im Zaun und ging einfach mit seiner Familie hindurch.
"Nicht getraut, zu klingeln"
"Das Tor war einfach offen", schwört Erhard und wirkt auch heute noch emotional bewegt dabei. Kurz darauf ging er durch ein weiteres Tor. Es ist ein Tor im sogenannten Signalzaun. Das fotografierte er. Die Erhards liefen ein paar hundert Meter Richtung Osten. Dann, kurz vor den ersten Häusern des kleinen Hessener Ortsteils Hessendamm, drehten sie um. Dieter Erhard sagt: "Ein bisschen Angst haben wir schon gehabt. Vielleicht hätten wir da klingeln sollen, aber das haben wir uns nicht getraut."
Gemeinsam mit seiner Frau und seinem achtjährigen Sohn überquerte Erhard (nicht im Bild) damals die Grenze in die DDR.
Ein Foto von damals zeigt Frau und Sohn nahe dem Beobachtungsturm. "Eindeutig auf DDR-Gebiet", erklärt Dieter Erhard. Niemand habe sie gehindert oder etwas gefragt. Sie hätten zum Beobachtungsturm hinauf gewunken, und von dort sei sogar zurückgewunken worden. Auf dem Rückweg offenbarte sich auch der wahrscheinliche Grund für das geöffnete Tor im Grenzzaun. Bundesgrenzschützer und DDR-Offiziere trafen sich gerade zu einer Beratung. Dieter Erhard sah die vier ins Gespräch vertieft auf dem Rückweg und fotografierte sie.
Demonstration und Streit bei DDR-Funktionsträgern
Während Dieter Erhard am frühen Nachmittag des 11. November 1989 mit Frau und Kind beinahe fassungslos die ersten Meter DDR erkundet, brodelt es damals im drei Kilometer östlich gelegenen Ort Hessen. Noch immer begann am Ortsrand das Sperrgebiet. Ein Teil der Einwohner demonstrierte am Nachmittag des 11. November für die Aufhebung des Sperrgebiets und für die Öffnung der Grenze zu Niedersachsen.
Fotos wie dieses sind in einer Ausstellung im Schloss Hessen zu sehen. Es zeigt, wie groß der Wunsch der Menschen aus der DDR war, in den Westen zu reisen.
Für den damaligen Bürgermeister des Ortes war das das Signal, zu handeln. Klaus Bogoslaw traf sich gegen 16 Uhr mit Funktionären und Offizieren zur Krisensitzung. Die Gruppe beriet im Polizei-Kontrollpunkt zum Sperrgebiet am Ortsrand. "Da wurde Tacheles geredet", erinnert sich Bogoslaw. Nach einigem Streit wurde schließlich die Grenzöffnung für den nächsten Morgen beschlossen. Ihm sei wichtig gewesen, dass das geordnet und friedlich ablaufe, so Klaus Bogoslaw.
Heute erinnert eine Gedenktafel an die Grenzöffnung im Herbst 1989.
Nach dem Beschluss wurde noch das Einverständnis aus höheren Dienststellen abgewartet. Als das erfolgte, wurde eine regelrechte Maschinerie in Bewegung gesetzt. Pioniere der NVA reparierten noch in der Nacht die Straße zur Grenze. Denn die war eigentlich wegen der Arbeiten an einem neuen Entwässerungsgraben gesperrt. Am 12. November, es ist ein Sonntag, wird morgens 7:58 Uhr dann die Grenze zwischen Hessen in der damaligen DDR und Mattierzoll in Niedersachsen geöffnet.
Grenzgänger zahlt Begrüßungsgeld aus
Fotos von endlosen Pkw-Kolonnen und lachenden Gesichtern erinnern heute daran. In einer Ausstellung im Hessener Schloss werden die Erinnerungen lebendig. Der Schloss-Förderverein hat Fotos, Zeitungsausschnitte und Zeitzeugenberichte zusammengestellt.
Mehr als 20.000 Menschen feiern schließlich am 12. November 1989 die Grenzöffnung zwischen Hessen und Mattierzoll. Dieter Erhard jedoch, der am Tag zuvor vor allen anderen die Grenze überquert hatte, kann nicht mitfeiern. Er ist Angestellter der Stadtverwaltung von Wolfenbüttel und muss an jenem Sonntag kurzfristig arbeiten. Er hilft an dem Tag, das Begrüßungsgeld auszuzahlen, ausgerechnet an die DDR-Bürger, die zwischen Mattierzoll und Hessen über die frisch geöffnete Grenze in den Westen strömen.
MDR (Carsten Reuß, Oliver Leiste) | Erstmals veröffentlicht am 12.11.2024