Fünf Jahre FARC-Abkommen Frieden? Gewalt in Kolumbien geht weiter
Der Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla in Kolumbien sollte fünf Jahrzehnte Bürgerkrieg beenden - doch Teile des Abkommens wurden nie umgesetzt. Abseits der großen Städte dreht sich die Gewaltspirale weiter.
Der Rio Uva schlängelt sich durch den dichten Regenwald des Chocó im Westen Kolumbiens. Pangas - kleine holzbetriebene Kanus - sind das einzige Verkehrsmittel, um die Dörfer der indigenen Emberá-Gemeinde am Oberlauf des Flusses zu erreichen. Vögel kreischen, Kröten quaken. Doch die Idylle täuscht.
Am Bug des Bootes flattert eine weiße Fahne, darauf ein durchgestrichenes Maschinengewehr. Soll heißen: Hier sind Zivilpersonen unterwegs. So versuchen sich die Flussbewohner zu schützen: "Seit ich geboren wurde, gab es hier nie so viele Konfrontationen und Feuergefechte", sagt Celestino Dumasasa Napi. "Wir hören immer wieder Schüsse, das macht uns Angst."
Er ist Stammesführer der Emberá-Gemeinde Nuevo Olivo. Nun aber sitzt er unter dem Palmdach einer Holzhütte in Tawa, sechs Bootsstunden von seiner Heimat entfernt. Im Hintergrund flackert ein Feuer, die Furchen im von Sonne und Sorgen gegerbten Gesicht des Mannes sind tief. Im März vergangen Jahres töteten Mitglieder bewaffneter Gruppen zwei Bewohner von Nuevo Olivo. "Paramilitärs bedrohen uns, sie bekämpfen sich mit der Guerilla", sagt Celestino. 42 Familien ließen daraufhin alles zurück - ihre Felder, ihre Häuser, ihre Tiere - und flohen ins Dorf Tawa.
Auf der Flucht im eigenen Land
Für Celestino Dumasasa Napi und seine Gemeinde haben die vergangenen fünf Jahre keinen Frieden gebracht. Ihre Geschichte teilen sie mit Tausenden. Die Zahl der Menschen, die vor der Gewalt fliehen mussten, hat sich in Kolumbien im vergangenen Jahr verdreifacht, meldet das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Es ist das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen weltweit, noch vor Syrien und der Demokratischen Republik Kongo.
Allein im ersten Halbjahr 2021 wurden fast 45.000 neue Desplazados, Vertriebene, gezählt. Fünf Jahre nach Abschluss des historischen Friedensabkommens mit den FARC, für das der damalige Präsident Juan Manuel Santos den Friedensnobelpreis verliehen bekam, sei die Gemengelage komplex, sagt der investigative Journalist Ariel Avila, die Bilanz sei mehr sauer als süß.
Zwar hätten 90 Prozent der FARC-Rebellen ihre Waffen auch wirklich niedergelegt, in einigen Regionen sei die Wiedereingliederung der ehemaligen Kämpfer gelungen. Gleichzeitig nimmt die Gewalt vielerorts wieder zu, vor allem gegen Umweltschützer und Menschenrechtsaktivisten. Auch sind seit Abschluss des Friedensvertrages mehr als 200 ehemalige Guerilleros verschwunden oder getötet worden. Die Sondergerichtbarkeit für den Frieden (JEP) rief die Behörden jüngst dazu auf, die Sicherheit der Ex-Guerilleros zu garantieren.
FARC hinterließen ein Machtvakuum
Die rechte Regierung von Ivan Duque habe das Abkommen von Beginn an sabotiert, sagt Avila. Vor allem habe sie ihr Versprechen, die Landbevölkerung zu unterstützen, nicht umgesetzt. Die Hoffnung vieler Bauern auf eine gerechtere Landverteilung und Hilfsprogramme, um von illegalem Kokaanbau auf legale Alternativen umzusatteln, wurde enttäuscht. Das habe eine neue Gewaltwelle in Gang gesetzt. Besonders angespannt ist die Lage oft dort, wo früher die FARC das Sagen hatte, in abgelegenen Regionen im Nordosten, in der Pazifikregion oder an der Grenze zu Venezuela.
Nach dem Abzug ist ein Machtvakuum entstanden, das der Staat nie füllte. Neue Gruppen kämpfen um die Vormachtstellung, wie die kleinere ELN-Guerilla, rechte Paramilitärs, Verbrechersyndikate, die mit mexikanischen Drogenkartellen verbunden sind, aber auch ehemalige FARC-Kämpfer, die sich wieder be- oder nie entwaffnet haben. Es geht um die Kontrolle von Regionen, die strategisch und wirtschaftlich wichtig sind - für Bergbau und Rinderzucht genauso wie für Kokaplantagen oder Drogen- und Waffenschmuggel.
Koka anbauen, um die Familie zu ernähren
In den Bergen des Cauca - im Südwesten Kolumbiens - reißen Bauern die grünen Kokablätter von den Büschen. Daraus wird Pasta Base gekocht, der Grundstoff für Kokain. Sie alle hier hatten nach dem Friedensvertrag auf Hilfsprogramme des Staates gehofft, um aus dem illegalen Geschäft auszusteigen - doch die Hilfe kam nicht, sagt Azael Cabrera von Agropatia, einem Zusammenschluss von zwölf Landgemeinden der Region um Patía.
Einige Familien hier hätten ihre Plantagen zerstört, doch die Versprechen aus dem Friedensvertrag seien gebrochen worden. So sei den Menschen nichts anderes übrig geblieben, als wieder Koka anzubauen. "Der Kokaanbau ist unsere Antwort auf die Vernachlässigung des Staates", sagte Azael Cabrera der Nachrichtenagentur AFP. "Es gibt keine Politik für uns Menschen auf dem Land. Der Kokaanbau hilft uns, unsere Kinder zu ernähren und gibt uns ein bisschen Würde."
Zwischen den Fronten
Die Angst begleitet die Menschen aus Patía jeden Tag, denn sie sitzen zwischen den Fronten. Für den Staat sind sie Kriminelle, die bekämpft werden müssen. Auf der anderen Seite stehen die Drogensyndikate, die Druck ausüben, damit Nachschub produziert wird. Auf den Plantagen in Patía arbeiten Jugendliche, alleinerziehende Frauen, Migranten aus Venezuela. Zwei Prozent der Bevölkerung Kolumbiens verdient sich durch den Kokaanbau den Lebensunterhalt, schätzen die Vereinten Nationen. Kolumbien ist nach wie vor der größte Kokaproduzent der Welt.
Wer den illegalen Geschäften im Weg steht, schwebt in Lebensgefahr, wie die Emberá-Gemeinden am Rio Uva. Im Dorf Tawa wird die Versorgung der Geflüchteten immer schwieriger. Unterstützung gebe es nur vom Roten Kreuz, sagt Stammesführer Celestino Dumasasa Napi. Doch zurück in ihr Dorf Nuevo Olivo können sie nicht mehr. Dort, wo die Emberá einst Mais, Yucca und Reis anbauten, haben illegale Gruppen heute Antipersonenminen ausgelegt.