100. Jahrestag des Genozids an den Armeniern Vom türkischen Umgang mit dem Völkermord
Wer im Zusammenhang mit dem Mord an den Armeniern von Genozid sprach, riskierte bis vor kurzem, in der Türkei angeklagt zu werden. Die Staatsführung reagiert noch immer heftig. Doch die Zivilgesellschaft ist längst dabei, die Ereignisse aufzuarbeiten.
Von Reinhard Baumgarten, ARD-Hörfunkstudio Istanbul
Osmanischen Zählungen zufolge lebten vor dem Ersten Weltkrieg rund zweieinhalb Millionen armenische Christen auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Heute sind es weniger als 60.000. "Es gab mal eine Gruppe von Menschen in diesem Land, die sich selbst Armenier nannten. Bis 1915 - die gibt es nicht mehr", stellt der Politologe Cengiz Aktar bitter fest. "Ich weiß nicht, wie du das nennst und wie wir das nennen sollen. Das ist der Fakt, egal ob du das Völkermord nennst oder auch nicht. Es gibt sie nicht mehr. Sie wurden ausgelöscht."
Viele Armenier sind in den Jahren 1915/16 getötet und massakriert worden, viele sind in den Wirren des Ersten Weltkriegs umgekommen. Je nach Quellenangabe sollen es zwischen 300.000 und eineinhalb Millionen gewesen sein. Viele Historiker sprechen von Völkermord. Auch Papst Franziskus hat das unlängst getan und den Zorn Ankaras auf sich gezogen.
Wahrheit oder Täuschung?
Er sei sehr traurig darüber, dass der Papst das gemeinsame Leid von Armeniern und Muslimen als Völkermord bezeichnet habe, erklärte Präsident Recep Tayyip Erdogan. Und dann wurde er deutlicher: "Wenn Politiker und religiöse Führer versuchen, die Arbeit von Historikern zu machen, führt das nicht zur Wahrheit, sondern zu Täuschung. Ich möchte den Papst davor warnen, diesen Fehler zu wiederholen, und ich verurteile ihn dafür."
Präsident Erdogan weigert sich, von Völkermord zu sprechen.
Der islamisch-konservative Regierungschef Ahmet Davutoğlu ging noch einen Schritt weiter: "Von religiösen Führern erwarten wir Aufrufe zum Frieden und die Vermeidung von Islamophobie. Diese Aussage ebnet wachsendem Rassismus in Europa den Weg und beschuldigt die Türken eines kollektiven Verbrechens."
1915 habe es 2500 armenische Monumente auf anatolischem Gebiet gegeben, erinnert der Politologe Cengiz Aktar. "Kirchen, Klöster, Schulen, große Gebäude. Nur 250 sind übrig. Meistens sind sie in schlechtem Zustand. Es ist eine totale Auslöschung, ein totaler Völkermord."
Lebhafte Debatte in der Türkei über die eigene Geschichte
Noch vor nicht allzu langer Zeit reichte die Erwähnung des Begriffs Völkermord im Zusammenhang mit Armeniern, um in der Türkei vor Gericht zu landen. Doch in der türkischen Zivilgesellschaft werde heute sehr lebhaft und offen darüber diskutiert, versichert Garo Paylan, der Koordinator für armenische Schulen in Istanbul: "Die Vernichtung der Armenier fand zu einer Zeit statt, als eine Nation geschaffen werden sollte. Vertriebene muslimische Türken vom Balkan, sollten mit den Kernlandtürken zu einer Nation verschmolzen werden. Man musste ihnen etwas bieten. Zum Beispiel die Immobilien und die Felder der Armenier."
Die damals im Osmanischen Reich regierende Partei für Einheit und Fortschritt habe im Zuge der verlorenen Balkankriege die Losung von der ethno-religiösen Homogenisierung Anatoliens ausgegeben. Konkret: nicht-türkische und nicht-muslimische Gruppen sollten deportiert werden. Kurden, Aleviten, Lasen, Tscherkessen und viele andere wurden aufgrund ihres muslimischen Glaubens als Türken angesehen. Griechen, Armenier, Aramäer, Syrianer und andere Christen mussten weg. So sei die Gründungslegende von der sunnitisch-muslimischen Republik türkischer Nation entstanden, erklärt Paylan.
"Die vor 100 Jahren geschaffene Nation basiert auf einer Lüge"
"Was wir vom Staat erwarten, ist, dass er seine Bürger und die Gesellschaft nicht mehr belügt. Die vor 100 Jahren geschaffene Nation basiert auf einer Lüge. Wir leben mit diesen Menschen, die an diese Lüge glauben. Die Menschen sind fest davon überzeugt, dass diese Nation eine glorreiche Gründerzeit hatte. Wir wollen, dass sich diese Gesellschaft mit ihrer Geschichte auseinandersetzt, damit solche Verbrechen nie wieder begangen werden", fordert Paylan.
Die türkische Nation sei sich keiner Schuld bewusst, stellt Präsident Erdogan im Brustton der Überzeugung fest: "Es steht völlig außer Frage, dass auf der Türkei kein Flecken oder Schatten namens Völkermord lastet."