Suizid einer Hamas-Überlebenden "Der Staat hat meine Schwester getötet"
Shirel Golan hatte das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 überlebt. Nun hat sie sich das Leben genommen. Ihre Familie beschuldigt den israelischen Staat, den traumatisierten Überlebenden nicht zu helfen.
"Shirel hat ein schönes Lächeln, tanzt gern, geht mit Freunden aus, versprüht pure Lebensenergie." Wenn Eyal Golan über seine Schwester redet, glänzen seine Augen. Es sei ein Wunder, dass sie vor einem Jahr den Angriff der Hamas auf das Nova-Festival überlebt hat. Dann korrigiert sich Eyal, weil er in der Gegenwart von ihr spricht.
Shirel Golan ist tot. An ihrem 22. Geburtstag Ende Oktober nahm sich die junge Frau das Leben, ein Jahr nach den Angriffen. "Sie ist nicht mehr ausgegangen. Wollte nur noch in ihrem Zimmer sein, wollte mich und meine Familie nicht besuchen. Es war, als ob jemand einen Dimmer heruntergedreht habe. Ich habe gemerkt, dass etwas nicht mit ihr stimmt", erzählt ihr Bruder.
Für ihren eigentlichen Tod macht die Familie von Shirel Golan den Staat Israel verantwortlich, der den Überlebenden vom 7. Oktober 2023 nicht genug helfe.
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Der Bruder will ein Tabu brechen
Eyal Golan stützt den Kopf in die Hände. Die Familie habe versucht zu helfen, sie kaum aus den Augen gelassen. Der junge Mann sitzt im Garten seiner Eltern in Zentralisrael. Hier starb Shirel.
Seit ihrem Tod hat ihr Bruder nicht aufgehört, über ihren Suizid zu reden. Er will ein Tabu in Israel brechen und offen, nicht mehr nur mit vorgehaltener Hand, über den Suizid von Überlebenden der Terrorangriffe sprechen.
Shirel hatte zunächst versucht, mit Freunden in einem Auto vom Festivalgelände zu fliehen. Sie verließ aber den Wagen mit einem Freund, um sich zu verstecken, alle anderen Insassen wurden ermordet. Das habe sie schwer belastet, sagt Eyal. "Meine Schwester wurde zweimal getötet. Ihre Seele ist am 7. Oktober gestorben. Gott hat uns ein Geschenk gemacht, dass wir mit ihr noch ein Jahr verbringen durften. Wir sind sehr religiös. Der Rabbi sagte mir, Gott rettete Shirel am 7. Oktober, aber die Hamas tötete ihre Seele."
"50 Suizide unter Nova-Überlebenden"
Für ihren eigentlichen Tod macht die Familie Golan den Staat Israel verantwortlich, der den Überlebenden vom 7. Oktober 2023 nicht genug helfe, obwohl sie offiziell registriert seien. Mangelnde Unterstützung bei der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen beklagen auch andere Überlebende des Nova-Festivals.
In einer Anhörung des israelischen Parlaments erzählte Festivalbesucher Guy Ben Shimon: "Es gibt fast 50 Suizide unter den Nova-Überlebenden. Noch viel mehr wurden zwangsweise ins Krankenhaus eingeliefert. Ich sah, wie Körper von Menschen mit Kugeln zerfetzt wurden. Wir brauchen jetzt Behandlung. Ich habe dreimal versucht, wieder arbeiten zu gehen, aber es geht nicht. Ich habe Flashbacks, erlebe alles immer wieder. In einem Monat läuft die staatliche Unterstützung aus, und Leute wie ich sollen wieder arbeiten gehen."
Der Bruder von Shirel Golan, Eyal, will ein Tabu in Israel brechen und offen über den Suizid von Überlebenden der Terrorangriffe sprechen.
"Große Krise, die schlimmer wird"
Andere Betroffene erzählen, sie müssten Kämpfe mit der Versicherung austragen, um mehr als das Minimum an staatlichen Therapiestunden zu erhalten, 36 Sitzungen. Das sei viel zu wenig, warnt Merav Roth. Die Psychologin betreut Traumatisierte im ganzen Land, auch ehemalige Geiseln und Nova-Opfer.
"Wir befinden uns in einer großen Krise, die schlimmer wird. Es wird viele Fälle von posttraumatischen Belastungsstörungen im Land geben", sagt Roth. "Unser Staat hat nicht genug Psychologen. Viele, die uns aufsuchen, kommen, weil ihre staatliche Therapie ausgelaufen ist. Ihre Trauer, ihre Verarbeitung beginnt da aber erst gerade."
Besonders schlimm sei das Schuldgefühl der Überlebenden, weil sie das Gefühl hätten, aus Loyalität zu den Opfern auch sterben zu müssen, warnt Roth. Man dürfe sie auf keinen Fall allein lassen.
Auf ARD-Anfrage bekundet das israelische Ministerium für Wohlfahrt und Sozialdienstleistungen der Familie Golan und der Nova-Gemeinde sein Beileid. Man biete den Überlebenden eine breitgefächerte Unterstützung an, heißt es. Allerdings würden die Hilfebedürftigen gebeten, sich an eine 24-Stunden-Hotline oder die Kommunalverwaltung zu wenden oder ein Formular im Internet auszufüllen.
"Wartet nicht, bis Nova-Überlebende zu euch kommen"
Eyal Golan reicht das nicht: "Die Bürokratie hat meine Schwester ein zweites Mal getötet. Die Verantwortung sollte nicht nur auf den Familien lasten. Denen, die meiner Schwester hätten helfen können, sage ich, wartet nicht, bis die Nova-Überlebenden zu euch kommen. Ihr habt die Listen, ihr wisst genau, wen es betrifft. Seid nicht passiv, sondern aktiv. Wir als Gesellschaft müssen aufmerksamer sein. Wenn Sie jemand sehen, der sich zurückzieht, gehen Sie auf ihn zu."
Nur weil der Fall von Shirel der erste Fall sei, über den namentlich in der Öffentlichkeit gesprochen werde, sagt Eyal, heiße das nicht, das sie ein Einzelfall ist. Damit sich andere trauen, über das Thema zu reden, will Eyal Golan weitermachen und die Geschichte seiner Schwester erzählen.