Krieg in Gaza Warum die Hamas noch immer so stark ist
Israel hat sich die Vernichtung der Hamas zum Ziel gesetzt. Doch nach einem Jahr Krieg erhält die Terrororganisation weiter Zulauf. Viele fragen sich, ob ein militärischer Sieg überhaupt möglich ist.
Sieht so eine Terrororganisation am Boden aus? Die Bilder, die aus Gaza-Stadt um die Welt gingen, sollen wohl das Gegenteil demonstrieren. Dutzende Männer zeigten sich da im Zentrum der Stadt, wo die israelische Armee sie über Monate heftigst bekämpft hatte.
Viele in der Menschenmenge trugen Uniform und waren schwer bewaffnet, hatten grüne Bänder der Hamas um den Kopf gewickelt. Es war ein Zeichen der Stärke, das da am Sonntag gezeigt werden sollte, als die Feuerpause in Kraft trat und drei israelische Geiseln aus der Gefangenschaft freikamen.
Viel Schmerz und ein Gefühl von Verwundbarkeit
Immer wieder hat Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu in den letzten Monaten seine Ziele für den Krieg im Gazastreifen wiederholt. "Wir sind entschlossen, den totalen Sieg zu erreichen", sagte er: "Alle Geiseln zurückzubringen, die Auslöschung der Hamas zu vollenden im gesamten Gazastreifen - und sicherzustellen, dass von Gaza nie wieder eine Bedrohung für Israel ausgeht."
Der Krieg hatte am 7. Oktober 2023 mit dem Überfall der Hamas und verbündeter Palästinensergruppen auf Israel begonnen. Terroristen ermordeten damals in den Orten in Grenznähe mehr als 1.200 Menschen und verschleppten 250 weitere in den Gazastreifen. Es war das schlimmste Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust - und es hat neben viel Schmerz auch ein tiefes Gefühl der Verwundbarkeit in der israelischen Gesellschaft hinterlassen.
Ein "totaler Sieg" - was ist das überhaupt?
Durch das Vorgehen gegen die Hamas in Gaza sollten nicht nur die Entführten, sondern den Israelis auch Sicherheit zurückgebracht werden. Doch nach mehr als 15 Monaten Krieg gibt es inzwischen viele, die nicht mehr daran glauben, dass die Hamas verschwindet - und dass ein "totaler Sieg", wie Netanjahu es formuliert, überhaupt möglich ist.
Yair Golan fragt sogar, was ein "totaler Sieg" überhaupt sein soll. "Ich kann sagen, dass die, die vom totalen Sieg sprechen, keine Ahnung haben", sagt er. Golan selbst versteht etwas vom Krieg: Er hat für Israel an allen Fronten gekämpft und war unter anderen stellvertretender Generalstabschef. Inzwischen ist er Chef der Arbeitspartei und damit einer der führenden Oppositionspolitiker.
Die Hamas rekrutiert immer neue Kämpfer
Auch wenn es seit Sonntag eine zunächst temporäre Waffenruhe gibt: Der Krieg in Gaza dauert Golan schon viel zu lange. Es gehe dabei nicht nur um die Sicherheit der Israelis, erklärt er: "Ich kenne die Doktrin der israelischen Armee gut: So kurze Kriege wie möglich."
Die israelische Armee hat nach eigenen Angaben zwar seit Kriegsbeginn fast 20.000 palästinensische Kämpfer getötet. Schätzungen zufolge sollen vor dem Krieg allein 30.000 bis 40.000 Kämpfer der Hamas angehört haben - dazu kommen weitere der anderen Terrororganisationen wie dem Islamischen Dschihad.
Doch einige Berichte sprechen auch davon, dass die Hamas inzwischen mehr als die getöteten 20.000 an neuen Kämpfern rekrutiert hat.
"Sie kommen zur Hamas, um Rache zu nehmen"
Warum, erklärt Fayez Abu Shamaleh in einem Interview mit der ARD. Er war einst Bürgermeister von Khan Yunis, der zweitgrößten Stadt Gazas, im Süden des Küstenstreifens. Die Stadt, die früher etwa 300.000 Menschen bewohnten, ist inzwischen flächendeckend zerstört. Ein unabhängiger Gesprächspartner ist Shamaleh nicht - er gehört zur Hamas.
"Die Hamas hat Erfolge im Kampf und das zieht junge Leute an, die in der Hamas zu Helden werden wollen", sagt er im Gespräch mit einem ARD-Mitarbeiter in Gaza. "Mich wundert nicht, dass hunderte, vielleicht tausende Palästinenser zur Hamas kommen, wenn ihrer Mütter getötet wurden oder ihre Häuser zerstört sind. Wenn sie ihre verletzten Brüder sehen oder ihre Väter, die kein Essen besorgen können." Die Menschen litten unter den israelischen Angriffen und der Vertreibung, sagt er. "Und sie kommen zur Hamas, um Rache zu nehmen."
Bis zu 90 Prozent von Hunger bedroht
Nach palästinensischen Angaben wurden seit Kriegsbeginn mehr als 46.000 Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza getötet und weitere 110.000 verletzt. Unabhängig prüfen lassen sich die Zahlen nicht, sie unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und bewaffneten Kämpfern. Der Krieg hat zu einer flächendeckenden Zerstörung des Gebiets geführt und zur Vertreibung von rund 90 Prozent der Bevölkerung.
Das dürfte aber nicht der einzige Grund für den Zulauf bei der Hamas sein: Die Organisation kann neue und alte Kämpfer auch bezahlen. Den Berichten zufolge kontrolliert sie einen Teil der Hilfslieferungen, die in den Gazastreifen kommen. Die Rede ist von einer Art Zollgebühr, die sie einnimmt. Und Kämpfer, die Geld bekommen, kommen dann auch an Essen für ihre Familien. In einem Gebiet, in dem nach UN-Angaben bis zu 90 Prozent der Bevölkerung von Hunger bedroht sind, kann das das Überleben sichern.
"Die Hamas kontrolliert alle Lebensbereiche"
Abu Shamaleh, der frühere Hamas-Bürgermeister von Khan Yunis, betont, dass die Hamas auch nach 15 Monaten im Krieg noch organisiert sei: "Sie kontrolliert die Seelen und Gedanken der palästinensischen Nation, denn sie steht für den Widerstand gegen die Besatzung. Sie kontrolliert alle Lebensbereiche in jeder Straße, durch die Sicherheitskontrollen und Rechtsprechung. Auch Gesundheitswesen und soziale Angelegenheiten. Das alles ist unter Kontrolle der Hamas."
Das mag ein wenig übertrieben sein, zumal auch viel an ziviler Infrastruktur wie Schulen und Kliniken bei den Kämpfen und Bombardements zerstört wurde. Aber fest steht auch nach mehr als einem Jahr Krieg: Die Hamas ist noch da. Bis kurz vor Inkrafttreten des Waffenstillstands feuerte sie sogar weiter vereinzelt Raketen in den Süden Israels. Bei Kämpfen und Hinterhalten in Gaza kamen immer wieder israelische Soldaten ums Leben.
Was ist die Alternative?
Yair Golan, der ehemalige General, glaubt, dass Israels Kriegführung falsch ist. Nach seiner Analyse liegt das allerdings nicht an den israelischen Streitkräften, sondern an falschen politischen Entscheidungen.
"Wenn man Terrororganisationen wie die Hamas bekämpft, muss man hart ihre militärischen Fähigkeiten bekämpfen", sagt er. "Und gleichzeitig brauchen die Menschen in Gaza eine Alternative zur Hamas." Darum hätte man sich seit dem 7. Oktober nicht gekümmert, sagt er. "Das ist das ganz große Versagen dieser Regierung."
Feuerpause gilt zunächst sechs Wochen
Die große Frage ist, wie es in Gaza weitergeht und welche Perspektiven die Menschen dort haben. Antworten darauf zu finden, ist Teil der Verhandlungen um einen dauerhaften Waffenstillstand. Die aktuelle Feuerpause soll zunächst für sechs Wochen gelten. In dieser Zeit sollen auch insgesamt 33 der über 90 verbleibenden Geiseln freikommen und rund 1.900 Palästinenser aus israelischen Gefängnissen entlassen werden, dazu soll mehr humanitäre Hilfe nach Gaza gelangen.
Doch anstatt Antworten auf die Fragen für die Zukunft zu finden, sind Teile der israelischen Regierung dafür, den Krieg schon bald wieder hochzufahren. Das ist schlecht für die restlichen Geiseln in der Hand der Terroristen und für die leidende Bevölkerung in Gaza. Für die Hamas ist es eine Chance, noch mehr Zulauf zu bekommen.