Westjordanland Siedlergewalt im Schatten des Gaza-Krieges
Im Schatten des Krieges im Gazastreifen hat laut Aktivisten im Westjordanland die Gewalt durch Siedler zugenommen. Brunnen würden zerstört, Häuser verwüstet. Es gibt auch Berichte über Tote. Viele Bewohner sind verzweifelt.
Ein Handyvideo von Mitte Oktober zeigt Gewalt, die im besetzten Westjordanland gerade an der Tagesordnung ist: Zu sehen ist eine Szene in At-Tuwani, einem Dorf in den Hügeln südlich von Hebron. Wenige Palästinenser aus dem Ort sind da, ein Siedler und ein israelischer Soldat. Auf einmal geht ein Siedler auf einen Palästinenser zu, stößt ihn mit seinem Sturmgewehr zurück, dann tritt er nach hinten und feuert. Der Palästinenser sackt zusammen und wird weggeschleift. Danach geht der Siedler zum Soldaten - und beide verlassen den Ort, es ist viel Geschrei zu hören.
Gefilmt hat das Ganze Basil Adra, ein junger Journalist aus At-Tuwani. Der, der angeschossen wurde, ist sein Cousin. Er liegt immer noch auf der Intensivstation, wurde schon dreimal operiert, aber er wird wohl überleben, sagt Basil dem ARD-Studio Tel Aviv.
Der Siedler stammt laut Zeugenaussagen aus einem sogenannten Außenposten oberhalb des Dorfes. Der Ort ist auch nach israelischen Recht illegal. Das hält die Siedler, die dort leben, aber nicht davon ab, immer wieder die Bewohner von At-Tuwani zu terrorisieren. Immer wieder sind sie in den Ort gekommen, auf einem Baum zwischen Dorf und Außenposten haben sie eine große israelische Fahne angebracht. Die Palästinenser hier empfinden das als Provokation.
Basil Adra hat eine Szene gefilmt, die den Angriff auf seinen Cousin zeigen soll.
Organisationen berichten von mehr als 170 Fällen
Die Gewalt durch Siedler im Westjordanland hat seit Beginn des Krieges im Gazastreifen noch einmal zugenommen. Mehr als 170 Fälle wurden von Menschenrechtsorganisationen seit dem 7. Oktober dokumentiert, auch in At-Tuwani. Manchmal werden Häuser verwüstet oder Olivenbäume vernichtet, manchmal bauen die Siedler Straßensperren auf, manchmal gehen sie in Ortschaften, verwüsten Geschäfte und zerstören Autos.
Und: Acht Palästinenser wurden seit Kriegsbeginn von israelischen Siedlern getötet, sagen Menschenrechtsorganisationen - unter den Getöteten sei ein Kind. Bestätigen lässt sich das nicht - die Fälle werden noch von der Staatsanwaltschaft geprüft.
Nun auch in Uniform unterwegs
Menschenrechtsaktivisten wie Sahar Vardi aus Jerusalem versuchen, Präsenz zu zeigen, zu dokumentieren und den Menschen beizustehen. Sie hat den Eindruck, im Schatten des Gaza-Krieges könnten Siedler alles tun und keiner würde sich daran stören. Sechs bis sieben Fälle von Siedlergewalt gebe es zur Zeit im Durchschnitt am Tag, sagt sie.
Hinzu komme, dass gewaltbereite Siedler jetzt in Uniform unterwegs seien. Zum Teil hätten sie vorher schon Palästinenser angegriffen, jetzt organisierten sich einige als private bewaffnete Milizen, andere seien als Reservisten eingezogen, in der Gegend stationiert und setzten Ihre Übergriffe trotzdem fort. Deshalb häuften sich die Berichte über Gewalt von Siedlern in der Uniform der israelischen Streitkräfte. Und wenn Aktivisten dann die Polizei riefen, heiße es, das sei okay, das Militär sei ja da, so Sahar Vardi.
Laut Menschenrechtsaktivistin Sahar Vardi sind immer mehr Siedler nun auch in Uniform unterwegs.
Sie berichtet dem ARD-Studio Tel Aviv auch von Razzien, die möglicherweise zu Trainingszwecken durchgeführt würden, um neu eingezogene Reservisten auszubilden. Überprüfen lässt sich das nicht. Das Argument, diese Einsätze dienten der Abwehr von palästinensischen Terroranschlägen, lässt sie nicht gelten: Südlich von Hebron habe es in der letzten Zeit - im Gegensatz zu anderen Gegenden im Westjordanland - keine Terroranschläge gegeben.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch Konfliktparteien können in der aktuellen Lage zum Teil nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Aktivisten: Gezielte Angriffe auf Wasserversorgung
Jibril Abu Mousa Araam lebt mit der Gewalt der Siedler, fast jeden Tag. Er wohnt noch etwas weiter südlich. Seine Familie besaß einmal viel Land in der Gegend. Auf Teilen davon wurde eine Siedlung errichtet. Jibril berichtet davon, dass Siedler mehrfach in sein Haus und in die Häuser seiner Nachbarn eingedrungen seien und dort viel zerstört hätten. Er erzählt, dass Siedler große Mengen Tierkot in seinen Brunnen geworfen hätten, etliche seiner Schafe seien verendet.
Siedler würden gezielt gegen die Wasserversorgung der lokalen Bevölkerung vorgehen, berichten auch Menschenrechtsaktivisten dem ARD-Studio Tel Aviv. Wasserleitungen oder Brunnen würden bei den Übergriffen gezielt zerstört.
Die Übergriffe kann man gerade bei Jibrils Nachbarn beobachten. Ein paar hundert Meter weiter sind Uniformierte zu erkennen, die mit einem weißen Auto gekommen sind. Man hört Schreie, ein Mann muss sich auf den Boden legen, Menschen werden aus einem Olivenhain getrieben.
Jibril Abu Mousa Araam sagt, er wisse nicht, wie lange er es in seinem Dorf noch aushält.
Hunderte Menschen laut Aktivisten vertrieben
Jibril berichtet, dass er neulich mindestens einen Soldaten wiedererkannt habe. Dieser habe ihn schon vorher in zivil angegriffen und versucht, seine Schafe zu vergiften. Nun trage er eine Uniform. Er beginnt zu weinen, als er davon erzählt. Und dann zeigt er noch eine Höhle, in der er sich in Sicherheit bringen kann, wenn sie wiederkommen.
Auch, wenn selbst US-Außenminister Antony Blinken die grassierende Siedlergewalt gerade erst angesprochen hat: Viele Menschen im Westjordanland haben den Eindruck, dass das Thema zu wenig Aufmerksamkeit bekommt.
Währenddessen zeigt die Gewalt der extremen Siedler Wirkung: Aus vier Ortschaften in den Hügeln südlich von Hebron sind die Menschen seit Beginn des Krieges im Gazastreifen schon geflohen. Mehr als 900 Menschen wurden Menschenrechtsorganisationen zufolge seitdem vertrieben. Auch Jibri Mousa Abu Araam weiß nicht, wie lange er es noch aushält.