Siedlergewalt gegen Palästinenser "Atmosphäre der Angst" im Westjordanland
Seit dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober nimmt die Entschlossenheit zu, mit der israelische Siedler Gebiete im Westjordanland an sich reißen. Viele verfügen jetzt über Waffen und treten mit der Autorität von Soldaten auf.
Khirbet 'Ein a-Rashash ist oder besser: war eine palästinensische Ortschaft im Jordantal, im besetzten Westjordanland. Etwa 85 Menschen aus 18 Familien lebten hier von ihren Schafen. Nach dem Terrorangriff aus dem Gazastreifen auf Israel am 7. Oktober wurde es für die Menschen hier immer schwieriger: Immer wieder kamen radikale Siedler aus der Gegend vorbei, die es auf ihr Land abgesehen haben.
Die Menschen waren regelmäßiger Gewalt ausgesetzt. Mal kamen die Siedler in den Ort und zerstörten Fenster, mal schlugen sie Menschen. Am 9. Oktober blockierten Siedler dann die Straße zu dem Ort - dadurch kamen die Bewohner von Khirbet 'Ein a-Rashash und ihre Tiere nicht mehr an Wasser. Am 13. Oktober verließen zuerst die Frauen und Kinder den Ort. Am 16. Oktober dann auch die Männer mit rund 1.500 Schafen. Sie haben sich der Gewalt gebeugt - so wie die Bewohner 16 anderer palästinensischer Ortschaften seit dem 7. Oktober.
Israelische Menschenrechtsorganisationen und auch die Vereinten Nationen (UN) haben zahlreiche Fälle von Siedlergewalt dokumentiert, die dazu geführt hat, dass mehr als 1.000 Palästinenserinnen und Palästinenser von ihrem Land vertrieben wurden.
Israel erklärt Flächen zu "staatlichem Land"
Die Ortschaften gehören zum so genannten C-Gebiet. Darunter fallen mehr als 60 Prozent des Westjordanlands. Israel hat hier, auf Basis der Oslo-Verträge, die volle Kontrolle. Das heißt: Israelisches Militär und israelische Polizei wachen über die Sicherheit und über eine Baugenehmigung entscheidet der Staat Israel. In den 1990er-Jahren war der Plan, dass die C-Gebiete innerhalb von fünf Jahren Teil eines palästinensischen Staates sein sollten. Dazu ist es nie gekommen.
Stattdessen werden Fakten geschaffen, die die Errichtung eines palästinensischen Staates immer unwahrscheinlicher machen: Der Ausbau der mehr als 130 israelischen Siedlungen hat sich in den letzten Jahren beschleunigt. Gerade erst hat die Regierung von Benjamin Netanyahu den Bau von weiteren 3.500 Wohnungen genehmigt.
Außerdem entzieht Israel seit Jahrzehnten große Flächen in den C-Gebieten der Nutzung durch Palästinenser, indem sie zu sogenanntem "staatlichen Land" erklärt werden. Dabei handelt es sich in der Regel um Gebiete, die zu militärischem Übungsgelände, zu Naturschutzgebieten oder als archäologisch besonders wertvoll deklariert werden. Hier wurden und werden zahlreiche Häuser abgerissen, Menschen werden vertrieben.
Fast sieben Prozent des Westjordanlands
Ein relativ neues Phänomen sind aber radikale Siedler, die landwirtschaftliche Außenposten gründen und mithilfe von Schafherden große Flächen unter ihre Kontrolle bringen. Teils tun sie das auf den als "staatliches Land" ausgewiesenen Bereichen - immer öfter aber auch darüber hinaus, auch auf privatem palästinensischen Land.
Dror Etkes, der für eine israelische Menschenrechtsorganisation arbeitet, dokumentiert diese neue Form der Landnahme mithilfe von Karten. Dafür vergleicht er Luftbilder, nutzt Verwaltungsdaten und Zeugenaussagen - und ist selbst viel im Westjordanland unterwegs. 77 dieser landwirtschaftlichen Außenposten gibt es inzwischen, sagt er - nach seinen Berechnungen kontrollieren Siedler inzwischen mehr als 35.000 Hektar, das sind mehr als sechs Prozent des gesamten Westjordanlandes.
Die allermeisten dieser Außenposten wurden in jüngsten Jahren gegründet. Die Landnahme gehe einher mit weiterer Vertreibung von Palästinensern, sagt Dor Etkes: "Es ist wichtig zu verstehen, dass Gewalt ein Teil des Vorgehens ist." Damit stellten die Siedler sicher, dass sich im Gebiet um ihre Farmen keine Palästinenser mehr aufhielten.
"Armee besteht aus Siedlern"
Seit dem 7. Oktober hat sich das noch beschleunigt. Während zahlreiche Fälle dokumentiert sind, in denen israelische Sicherheitskräfte bei Gewaltakten gegen Palästinenser nicht einschreiten, haben die Übergriffe nun eine neue Qualität, auch weil radikale Siedler nun zum Teil selbst in Soldatenuniform unterwegs sind. Das sagt Jehuda Shaul, der früher selbst als Soldat im Westjordanland eingesetzt war, dann die Organisation "Breaking the Silence" gegründet hat und heute einer der prominentesten Kritiker der israelischen Besatzung ist: "Seit dem 7. Oktober sind Siedler die Soldaten, die Armee besteht aus den Siedlern. In diesem Krieg sind die richtigen Soldaten, die besser trainierten und ausgerüsteten, aus der Westbank nach Gaza und an die Grenze zum Libanon versetzt worden. Und im Westjordanland dienen die Reservisten."
Im Ergebnis bedeute das: "Die gleichen gewalttätigen, manchmal verurteilten kriminellen Siedler, die vor sechs, sieben Monaten palästinensische Gemeinschaften zusammengeschlagen und sie dort, wo sie leben, vom Land vertrieben haben, tun das jetzt in Uniform und mit Gewehr - mit voller Autorität."
USA und EU sanktionieren Siedler
Menschenrechtsorganisationen haben zahlreiche Fälle von Gewalt durch diese Siedler-Soldaten dokumentiert. Auch ein Team der ARD wurde bereits bedroht. Die Siedler können sich in ihrem Handeln von rechtsextremen Teilen der israelischen Regierung unterstützt fühlen: Itamar Ben Gvir, Minister für Nationale Sicherheit, und auch Bezalel Smotrich, der Finanzminister und zugleich für den Siedlungsbau zuständig ist, entstammen selbst der radikalen Siedlerbewegung und fördern sie politisch. Im Westjordanland wurden nach dem 7. Oktober beispielsweise tausende Waffen an Siedlermilizen verteilt.
Die USA haben inzwischen Sanktionen gegen sieben gewaltbereite Siedler erlassen, andere Länder wie Großbritannien und Frankreich haben sich dem angeschlossen. Auch die EU hat nun Sanktionen beschlossen.
Einer der Siedler auf der Sanktionsliste der USA ist Yinon Levi, er betreibt die "Meitarim Farm" in den Hügeln südlich von Hebron. Jehuda Shaul sagt, Levi habe zusammen mit einem anderen Außenposten fünf palästinensische Gemeinschaften in der Umgebung vertrieben - auch mit Gewalt.
In der Begründung, die das US-Außenministerium für die Sanktionierung veröffentlicht hat, heißt es:
Yinon Levi hat eine Gruppe von Siedlern angeführt, die mit ihren Taten eine Atmosphäre der Angst im Westjordanland geschaffen hat. Regelmäßig führt Levi Gruppen von Siedlern von der Meitarim Farm aus an, die palästinensische und beduinische Zivilisten angegriffen und ihnen mehr Gewalt angedroht haben, falls sie ihre Häuser nicht verlassen. Sie haben ihre Felder abgebrannt und ihren Besitz.