Terrorismusforscher zu Pager-Angriff "Eine Form von psychologischer Kriegsführung"
Hinter den Explosionen von Pagern und Funkgeräten im Libanon vermutet auch der Terrorismusforscher Peter Neumann Israel. Eine neue Form der Kriegsführung? Mit welchem Ziel? Und was sind die möglichen Konsequenzen?
ARD: Dass einen Tag nach den Pagern auch die Walkie-Talkies vieler Hisbollah-Mitglieder explodieren - haben Sie das erwartet?
Peter Neumann: Nein, das habe ich nicht erwartet. Und es bedeutet, dass die gesamte Lieferkette der Hisbollah von den Israelis infiltriert ist, dass sich die Hisbollah eigentlich auf gar nichts mehr verlassen kann und jetzt natürlich in einer großen Krise steckt. Wenn ich die Miliz wäre, würde ich jetzt erst einmal alles abschalten, weil ich natürlich nicht weiß, ob da noch was kommt. Deswegen war diese zweite Welle eine Art Akt der psychologischen Kriegsführung, wo die Israelis nochmal klar gemacht haben: Wir haben euch in der Hand.
ARD: Das braucht ja schon eine sehr genaue Planung. Die Geräte müssen mit Sprengstoff versehen und an die vorgesehenen Empfänger gebracht werden. Und dann muss noch das Signal rausgehen, um die Explosionen auszulösen. Hat es etwas Vergleichbares schon mal gegeben?
Neumann: Na ja, die Israelis haben solche Aktionen sogar schon in den 1990er-Jahren durchgeführt. Um zu versuchen, einen terroristischen Anführer zu töten, wurde sein Mobiltelefon gestohlen, ein Sprengsatz eingebaut und dann wurde es in die Luft gesprengt. Aber das war ein Telefon, nicht 3.000. Die Größe, die Qualität und die Quantität dieser Operation ist wirklich - soweit ich weiß - einmalig.
Experte vermutet Spione in den Reihen der Hisbollah
ARD: Gehen Sie denn davon aus, dass es innerhalb der Hisbollah Mitglieder gibt, die Israel zuarbeiten? Dass die Hisbollah also infiltriert ist, möglicherweise auch durch Agenten aus Israel?
Neumann: Also dabei muss man verstehen, dass die Hisbollah neben dem Iran das Spionageziel Nummer eins für Israel ist. Sie wird als die wichtigste strategische Bedrohung direkt an der Grenze zu Israel gesehen. Und natürlich wird diese Organisation, so weit es geht, von vorn bis hinten ausgeforscht. Da wird alle mögliche Kommunikation abgefangen. Und da gibt es natürlich auch Informanten - Spione innerhalb der Hisbollah, denen Informationen und Kommunikation vorliegen. Und ich vermute sehr stark in diesem Fall, dass es ein Netz von Tarnfirmen gibt, auch in Europa, die möglicherweise versuchen, in die Lieferkette der Hisbollah reinzukommen. Also alles ist vorstellbar, von allen Seiten.
"Gegner ins Chaos stürzen"
ARD: Auf einmal explodiert ein elektronisches Gerät, auf dem Nachrichten, in welcher Form auch immer, eingehen. Könnte das eine neue Form der Kriegsführung sein?
Neumann: Das ist die Art von unkonventioneller Kriegsführung, für die die Israelis auch bekannt sind. Es geht ihnen nicht immer nur darum, Territorium zu gewinnen, sondern mit dieser Form von psychologischer Kriegsführung den Gegner zu verunsichern, ihn ins Chaos abstürzen zu lassen und im Prinzip kampfunfähig zu machen. Jetzt ist die große Frage, ob die Israelis es schaffen, aus diesem aus ihrer Sicht taktischen Erfolg einen strategischen Erfolg zu machen. Das hat die Hisbollah ganz schön gerüttelt. Aber was machen die Israelis jetzt damit? Bringt das überhaupt was? Und führt es für Israel langfristig zu einem dauerhaften Erfolg?
ARD: Kann aus Ihrer Sicht daraus eine größere Militäroperation Israels gegen die Hisbollah werden? In Beirut sind die Krankenhäuser voll. Wenn die Hisbollah in einen großen Krieg gegen Israel ziehen würde, dann könnte sie ja kaum Verletzte in Krankenhäusern versorgen. Ist das ein Kalkül, das vielleicht auch dahinter steht bei Israel?
Neumann: Ja, das hat der israelische Verteidigungsminister ja bereits angekündigt. Und er war übrigens nicht der Erste. Das wird seit Monaten von den Israelis gesagt, dass ein Richtungswechsel, ein Szenenwechsel bevorsteht.
Die Hamas war sozusagen die taktische Gefahr. Die strategische Gefahr ist die Hisbollah. Israel hält den Zustand im Norden des Landes, wo ja ein großer Teil evakuiert werden musste, für unerträglich. Israel sieht die Hisbollah als langen Arm des Iran und möchte nicht langfristig mit der Hisbollah direkt in der Nachbarschaft leben. Das heißt, es wird eine Konfrontation geben. Und es könnte durchaus ein Kalkül gewesen sein, eine Situation zu schaffen, wo die Hisbollah gar nicht in der Lage ist, zurückzuschlagen. Und möglicherweise steht in den nächsten Tagen eine noch größere Offensive der Israelis bevor.
Taktische Erfolge ohne strategischen Plan?
ARD: Was, denken Sie, wird der Iran in dieser Situation tun?
Neumann: Also der Iran hat sich ja ziemlich zurückgehalten nach der Tötung von Hamas-Anführer Hanija vor ein paar Wochen in Teheran. Da gab es wahrscheinlich auch großen Druck seitens der Amerikaner, aber wahrscheinlich auch Diplomatie und Abschreckung und Zureden von Russland und von China. Die Frage ist natürlich: Der Druck im Kessel wird immer größer und wir sind schon in einer brenzligen Situation - wie geht es jetzt weiter? Es gibt noch Auswege aus dieser Situation, aber es könnte natürlich auch eine Eskalation geben.
ARD: Genau das ist der Punkt: Wenn es weiter eskaliert - nach dem Gazastreifen nun möglicherweise verstärkt gegen die Hisbollah. Erkennen Sie dabei einen politischen Plan Israels?
Neumann: Na ja, der politische Plan ist, den größten strategischen Gegner in der direkten Nachbarschaft auszuschalten. Die Hisbollah hat 8.500 Raketen auf Israel abgeschossen, in den vergangenen Monaten mindestens 30 Menschen getötet, 80.000 Israelis mussten in andere Teile des Landes fliehen, weil sie in Teilen Israels nicht mehr leben können. Das ist eine Bedrohung, mit der Israel nicht langfristig leben möchte.
Ich hoffe sehr, dass Israel tatsächlich auch einen strategischen Plan hat. Das ist, wie gesagt, immer das Problem mit Israel. Große taktische Erfolge, aber was ist dann der strategische Plan, das politische Ziel? Wie macht man aus einem taktischen Erfolg einen dauerhaften Frieden? Wie schaltet man einen Gegner dauerhaft aus? Darauf gibt es häufig keine Antwort.
Das Gespräch führte Stefan Schlag, NDR Info