Sozialwissenschaftler zur Revolte in Brasilien "Politik statt Fußball und Samba"
Im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro haben Gastgeber Brasilien und Spanien das Endspiel des Confed Cups bestritten. Wieder kam es am Rande einer Kundgebung zu Ausschreitungen. Mit der Revolte schüttele Brasilien alte Klischees ab, erklärt der Sozialwissenschaftler Marcos Nobre im Gespräch mit tagesschau.de: Jetzt habe die Politik Priorität - und nicht Fußball und Samba. Vor allem die Jugend sorge für eine neue politische Kultur.
tagesschau.de: Am Rande des Halbfinalspiels des Confederations Cups in Brasilien kam es bei Protesten erneut zu Straßenschlachten mit der Polizei. Beim Finale kam es vereinzelt wieder zu Zwischenfällen. Könnte die Protestbewegung jetzt von einer friedlichen in eine gewaltsame kippen?
Marcos Nobre: Das glaube ich nicht. Ich habe den Eindruck, dass die Gewalt eher abnimmt. Die Polizei geht gemäßigter vor als zu Beginn der Proteste und die gewaltbereiten Gruppen unter den Demonstranten sind sehr isoliert. Die vereinzelten Ausschreitungen kann man nicht mit der gesamten Protestbewegung identifizieren. Sie haben in erster Linie mit der speziellen Situation einer Stadt oder Region zu tun. In Rio de Janeiro zum Beispiel, wo es bei Protesten in einer Favela zu einer Schießerei mit der Polizei kam, waren Drogendealer involviert. Hier ging es viel mehr um den Kampf von Drogenbanden gegen die Friedenspolizei, die gerade die Favela da Maré einnehmen soll. Mit den eigentlichen Protesten hatte das nichts zu tun.
Die Wahrnehmung durch die Medien im Ausland ist verzerrt, weil der Blick sehr stark auf die Ausschreitungen gerichtet ist. Hier in Brasilien berichten die Medien täglich: 'Die große Mehrheit der Proteste verläuft friedlich, nur am Rande kommt es vereinzelt zu Gewalt.'
"Fußball ist komplett in den Hintergrund gerückt"
tagesschau.de: Präsidentin Rousseff hat das größte Reformpaket seit 1988 angekündigt. Der Kongress hat bereits im Eilverfahren Gesetze auf den Weg gebracht, beispielsweise gegen Korruption. Wird sich die politische Klasse in Brasilien jetzt tatsächlich ändern?
Nobre: Es hat sich ja schon etwas geändert. Zwar setzt Rousseff mit den angekündigten Reformen nur ihre bisherige Politik fort. Das ist also eher ein Marketingversuch der Regierung als tatsächliche Neuerung. Aber ich halte die Debatte über die längst überfällige Reform des politischen Systems und des Wahlrechts für vielversprechend: In einem Plebiszit sollen die Menschen mitentscheiden, wie die Korruption künftig bekämpft wird. Es gibt noch keine fertigen Antworten, aber die Regierung ist in einen Dialog mit der Straße getreten. Das ist unglaublich: Die Demonstranten haben es schon jetzt geschafft, die politische Kultur unseres Landes zu verändern.
Und auch unsere Wahrnehmung im Ausland: Wir galten immer als das Land des Fußballs und des Samba. Dieses Klischee schütteln wir jetzt ab. Im Augenblick zeigt sich, dass es uns sehr viel wichtiger ist, die politischen Probleme zu lösen, als Fußball zu schauen. Fußball ist komplett in den Hintergrund gerückt. Das ist für Brasilien etwas Außergewöhnliches.
tagesschau.de: Wie kommt es, dass die Proteste zu einer derartigen Massenbewegung wurden? So etwas gab es in Brasilien seit 20 Jahren nicht.
Nobre: Zunächst mal gingen ja nur kleinere Gruppen der Zivilgesellschaft auf die Straße. Die beiden wichtigsten sind: 'Passe livre', eine nationale Bewegung, die sich für die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs einsetzt. Und 'Comitê populario da Copa', eine Bewegung gegen die hohen Kosten und Umsiedlungen, die mit den Stadionbauten für WM und Olympische Spiele einhergehen.
Erst nachdem die Polizei sehr gewaltsam gegen die Demonstranten vorgegangen ist, nahmen die Proteste eine viel größere Dimension an. Die Menschen, die sich jetzt auf der Straße versammeln, tun das aus sehr unterschiedlichen Beweggründen: Eine allgemeine Unzufriedenheit mit der schlechten Infrastruktur, dem Gesundheits- und Bildungssytem und dem politischen System als solchem verschafft sich jetzt Luft. Die Menschen sind nicht gegen eine bestimmte Regierung oder Partei, sondern gegen ein System, das sich gegenüber der Bevölkerung abgeschottet hat.
"Keine Polarisierungen, keine Opposition"
tagesschau.de: Inwiefern abgeschottet?
Nobre: Das ist ein Prozess, der schon lange anhält. Das Regieren in Brasilien funktioniert mit wechselnden parlamentarischen Mehrheiten. Das heißt, alle Parteien regieren irgendwie mit. Für ihre Unterstützung erhalten die Parlamentarier Gegenleistungen, beispielsweise Ämter. Das öffnet zum einen der Korruption Tür und Tor. Zum anderen verschwinden dadurch mehr und mehr die politischen Positionen. Es gibt keine Polarisierungen, keine Opposition. Keine Partei unterscheidet sich von der anderen, es ist alles ein einziger Einheitsbrei geworden.
Vor allem seit Lula hat sich dieser Prozess verstärkt: Seine Arbeiterpartei PT hat zwei historische Missionen: das politische System zu reformieren und die Ungleichheit zu verringern. Da Lula merkte, dass er nicht beides gleichzeitig machen kann, schloss er eine Art Pakt mit dem System. Er fügte sich in die politischen Mechanismen und konnte dadurch sein Ziel verfolgen, die Ungleichheit zu verringern. Das Resultat war, dass die Opposition verschwand, denn die PT war die einzige Partei, die zur Opposition gegenüber diesem System getaugt hätte.
tagesschau.de: Warum ist es gerade die Jugend der neuen Mittelschicht, die auf die Straße geht?
Nobre: Das sind eben genau die jungen Leute zwischen 20 und 30, die Politik immer nur als ein Geschachere zwischen Kabinettsmitgliedern und Abgeordneten erlebt haben. Eine politische Klasse, die von der Bevölkerung denkbar weit entfernt ist. Politische Debatte, politische Willensbildung über Haltungen und Parteiprogramme kennen sie nicht.
Und das Neue ist: Diese jungen Leute haben politische Meinungsbildung im Internet, in sozialen Netzwerken erfahren. Und in der aktuellen Revolte kam es sozusagen zu einer Explosion: Die Empörung pflanzte sich im Netz in einer Art Lauffeuer fort. Und weil diese Art, sich zu organisieren, den Politikern völlig fremd ist, wirkten sie anfangs komplett verloren und überfordert. Das heißt, in der Gesellschaft hat sich eine politische Kultur entwickelt, die sehr viel fortschrittlicher ist als das politische System. Die jungen Leute haben die Politik überholt.
"Es dürfte bald einen Waffenstillstand geben"
tagesschau.de: Wie wird es jetzt weitergehen? Sind die Proteste eine Art Strohfeuer, das bald wieder abkühlen wird?
Nobre: Ich glaube nicht, dass die Anliegen der Demonstranten so einfach verpuffen werden. Es dürfte bald zu einer Art Waffenstillstand kommen. Es ist deutlich zu spüren, dass sowohl Bundesregierung als auch Landesregierungen versuchen, dem Aufschrei der Straße gerecht zu werden. Und das nehmen die Demonstranten zur Kenntnis. Aber wenn die Antworten der Politik nicht befriedigend ausfallen, werden die Proteste zurückkommen.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de