Erdüberlastungstag "Alle Länder leben auf Pump"
Jahr um Jahr verbraucht die Menschheit mehr natürliche Ressourcen, als die Erde erneuern kann. Landschaftsökologe Ralf Seppelt erklärt, was der heutige Erdüberlastungstag aussagt - und wie ein Ressourcenerhalt aussehen kann.
tagesschau24: Was ist der Erdüberlastungstag?
Ralf Seppelt: Die Erde produziert eine ganze Reihe an Ressourcen - an Nahrung, an sauberem Wasser, Luft, die wir atmen, an Baumaterialien - Dingen, von denen wir leben. Die werden natürlich generiert - also durch Ökosysteme geliefert. Und wenn es dazu kommt, dass wir mehr verbrauchen, als die Erde "nachliefern" kann, dann leben wir auf Pump. Und wenn man den Verbrauch global zusammenrechnet und aufsummiert, dann ist das heute der Fall.
Welche Ressourcen verbraucht werden
tagesschau24: Um welche Ressourcen geht es da?
Seppelt: Wenn man das Wort verwendet, dann denkt man vielleicht zunächst an Energie, an Baumaterial. Aber viel wichtiger sind die nachwachsenden Ressourcen - alles, was vom Acker kommt, was Nahrungsmittel sind, Produkte, die von Tieren kommen und die wir aus dem Wald beziehen. Also alles die Lebensmittel, auf denen wir sozusagen basieren.
tagesschau24: Diese Überlastung für 2022 ist heute, am 28. Juli erreicht. Was sagt uns dieser Zeitpunkt?
Seppelt: Tatsächlich gibt es diese Zeitreihe und diese Analyse vom Institut schon schon seit 50-60 Jahren. 1961 lag dieser "Earth Overshoot Day" tatsächlich noch im Folgejahr - das heißt, mit dem 31.12., hatte die Menschheit im Ganzen gerade erst 75 Prozent der Ressourcen für das Jahr verbraucht. Und 1970 fiel die Bilanz so aus, dass man exakt zum 31.12. diesen "Earth Overshoot Day" hatte. Und heute ist es schon ein halbes Jahr früher, Ende Juli, soweit.
Eine Erfolgsgeschichte - und ihr Preis
tagesschau24: Wie ist das passiert?
Seppelt: Die Wissenschaft nennt das "the great acceleration", die Große Beschleunigung: Innerhalb der letzten 40, 50 Jahre hat die Menschheit eigentlich eine Erfolgsgeschichte hinter sich. Wir haben viele Dinge erreicht, Kindersterblichkeit ist zurückgegangen, Bildung ist besser geworden. Wir haben Unmengen an Nahrungsmitteln produziert. Tatsächlich ist der Zuwachs an Nahrungsmittelproduktion in den vergangenen 40 Jahren schneller gestiegen als die Weltbevölkerung. Das ist eigentlich eine große Erfolgsgeschichte.
Aber das ist auf Kosten der Erde passiert - und das, was das alles angetrieben hat, sind natürlich fossile Energien. Also viel hochverdichtete Energie in Form von Öl, Kohle, Gas, früher natürlich auch Holz, die wir verwendet haben, um damit Arbeit zu verrichten und damit letztlich freie Zeit geschaffen haben, um andere Dinge zu machen - um uns kulturell zu entwickeln, um Gesundheit zu fördern und Bildung voranzubringen. An sich eine sehr positive Sache - aber wie gesagt angetrieben durch exakt die Dinge, die uns jetzt im Rahmen des Klimawandels so schmerzlich auf die Füße fallen.
Regional extreme Unterschiede
tagesschau24: Bedeutet das auch, dass der "Earth Overshoot Day" lokal extrem ungleich verteilt eintritt - dass Länder wie Deutschland, die sehr viel Energie verbrauchen, ihn früher erreichen als Staaten auf dem afrikanischen Kontinent?
Seppelt: Das ist völlig richtig, wobei gilt: Wenn man es auf einzelne Länder herunterbricht, müssen wir natürlich in Beziehung setzen, was das Potenzial eines Landes ist, das es selber produzieren kann, wovon es leben kann versus das, was durch Handel und anderen Austausch eingebracht wird. Insofern ist es völlig offensichtlich, dass zum Beispiel Länder wie Katar, die die einen hohen Konsum und Energieverbrauch haben, aber selbst von ihren Umweltbedingungen her gar nicht gut ausgestattet sind, diesen "Earth Overshoot Day" schon im Februar haben.
In Katar war er dieses Jahr am 9. Februar ... Zum Vergleich: In Deutschland ist er im Mai, und Länder, die sehr viele Nahrungsmittel produzieren und auch keinen so hohen Konsum haben wie zum Beispiel Ecuador oder Indonesien, haben ihren "Earth Overshoot Day" im Dezember. Aber: Alle Länder leben auf Pump.
Die planetaren Grenzen
tagesschau24: Die Helmholtz-Forschungsgemeinschaft hat in einer Klimainitiative analysiert, in welchen Bereichen wir besonders schlecht aufgestellt sind. Wo haben wir besonders weit über unsere Verhältnisse gelebt?
Seppelt: Diese Analyse der planetaren Grenzen versucht, deutlich zu machen, wo es überall knirscht. Da guckt man sich Dinge an wie neue Substanzen in der Umwelt, Plastik in der Umwelt, wie die Wasserverfügbarkeit ist - für Wasser als Trinkwasser, aber auch als Beregnungswasser. Es wird sich angeschaut, wie die Klimagrenzen sind, wie weit sie eingehalten werden, wie die Funktionalität von Ökosystemen und die Artenvielfalt ist.
All diese Größen hängen natürlich auch miteinander zusammen, stehen in Beziehung: Einige agieren als Hebel, als Treiber, wo man Änderungen verursachen kann. Und andere sind Endpunkte, die zeigen: Da müssten wir eigentlich was tun.
An dieser Stelle sind natürlich der Klimawandel, die hohen CO-2-Emissionen und auch der zunehmend beschleunigte und ungebremste Verlust an Artenvielfalt die beiden wichtigsten Treiber, die auch zusammenspielen. Alles, was ich tue, was wir an Maßnahmen und an Möglichkeiten haben, um den Klimawandel zu bremsen, kann auch positiv sein für den Biodiversitätserhalt - und umgekehrt.
Der Weltbiodiversitätsrat hat vor zwei Jahren festgestellt: Der Haupttreiber für den Biodiversitätsverlust und letztlich auch für den Klimawandel ist der zunehmend zu hohe Ressourcenverbrauch. Die ungleich verteilten Ressourcen, die da sind, müssen weiter wachsen, um den Bedarf zu befriedigen.
Ein Beispiel aus der Nahrungsmittelproduktion: Weltweit produziert die Menschheit 5000 Kilokalorien pro Person und Tag, um unsere Ernährung sicherzustellen. Alle, die vielleicht die eine oder andere Ernährungstabellen gesehen haben, wissen: Das ist doppelt so viel, wie man im Durchschnitt eigentlich braucht, vielleicht sogar noch mehr.
Aber es ist auch sehr ungleich verteilt: Amerika verbraucht an Ressourcen 8000 Kilokalorien pro Tag und Person. In den sich entwickelnden Ländern ist das weniger als ein Viertel. Insofern ist es ein Verteilungsproblem - und das vor dem Hintergrund, dass wir eigentlich genug Nahrungsmittel produzieren, um alle satt zu kriegen. Und trotzdem gibt es heute noch 200 Millionen Kinder, die unterernährt oder mangelernährt sind. Es ist ein Verteilungsproblem.
Wenn wir uns umgekehrt anschauen: Wann war denn der "Earth Overshoot Day" am 31.12.? Dann war das für Deutschland irgendwann in den 1960er-Jahren. Und da kann man sich jetzt mal überlegen: Wie haben wir denn damals in Deutschland gelebt? Das klingt natürlich sehr schmerzhaft, wenn man sagt: Oh Gott, da müssen wir jetzt wieder hin. Aber es ist zumindest ein Denkanstoß zu sagen, was die Lösung da sein konnte - was denn vielleicht genug ist.
"Eine Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts"
tagesschau24: Was würden wir denn gewinnen, wenn wir die Ressourcen unserer Welt stärker schonen?
Seppelt: Ich glaube, dass wir an der Stelle eine "gesellschaftliche Brille" aufsetzen müssen, um die Frage zu beantworten oder zumindest eine Idee dafür zu geben - das ist keine naturwissenschaftliche Frage, sondern eine des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Wenn wir uns diese langen Zeiträume ansehen, die vergangenen 10.000 Jahre, in denen es den Menschen auf dem Planeten in mehr oder weniger heutiger Form gibt, dann liefert uns das nicht die Antwort. Die Antwort liefern uns die nächsten zehn, 50, vielleicht 100 Jahre.
Und der wichtigste Punkt ist der gesellschaftliche Zusammenhalt - die Einigung auf eine Idee und auf ein Ziel, dass wir gemeinsam mit diesen Ressourcen auskommen müssen und uns dann auch daran erfreuen können, dass das funktioniert. Dass das kein Verzicht in dem Sinne ist, sondern die Gemeinschaft voran bringt und wir zufrieden sein können, dass es uns sehr, sehr gut geht, dass wir hervorragend ausgebildet sind und vielleicht mal zwei Schritte zurückgehen sollten - mal durchatmen und gucken sollten, was uns wirklich wichtig ist in unserem Leben.
Das Gespräch führte Anja Martini, tagesschau.