Für oder gegen den Krieg Was bedeutet Patriotismus in Russland?
Es gibt sie noch, die Russen, die gegen den Krieg in der Ukraine protestieren, sich einsperren lassen. Für andere gehört es zur Bürgerpflicht, die "Jungs an der Front" zu unterstützen. Beide sehen sich als Patrioten.
Fast ununterbrochen klingelt bei Elena Koschanowa das Handy. Die Mittvierzigerin aus Wolgograd koordiniert Hilfslieferungen für die russischen Soldaten an der Front. Was im April als Einzelaktion begann, ist inzwischen ein Vollzeitjob geworden.
Längst wenden sich nicht mehr nur Soldaten aus Wolgograd an sie. Sondern, wie sie lächelnd sagt, alle Jungs. "Sie schreiben, was sie brauchen. Angefangen bei Unterhosen, Socken mit Süßigkeiten drin bis hin zu allem Möglichen. Dabei ist manchmal wichtiger als das Materielle, dass sie das Gefühl haben, nicht allein zu sein."
Unterstützung ist "Ehrensache"
"Gemeinsam sind wir stark" hat Koschanowa ihren Helferkreis deshalb genannt, dem sich inzwischen fast 6000 Leute angeschlossen haben. Sie sammeln Geld und Sachspenden, kaufen ein, schreiben Briefe, organisieren alles, was gebraucht wird. Denn der Verschleiß an der Front sei groß. "Es gibt keinen Ort zum Waschen und Trocknen, besonders jetzt im Winter. Es wird vieles einfach genommen und weggeworfen."
Manchmal fehle es aber auch einfach an etwas, das an Zuhause erinnere. Weshalb sie selbst eine ganze Zeit lang hausgemachte Frikadellen an die Front geschickt hat. Für sie ist es mehr als nur eine patriotische Pflicht. Für sie ist es Ehrensache. Die Frage nach dem Warum und Wieso des Krieges, der offiziell spezielle Militäroperation genannt werden muss, die Bilder des Blutvergießens und der Zerstörung in der Ukraine - all das blendet sie aus.
Elena Koschanowa (sitzend) mit einigen ihrer etwa 6000 Mitstreitern bei der Organisation "Gemeinsam sind wir stark", mit der sie russische Soldaten an der Front unterstützen wollen.
"Ich schäme mich"
Nicht hinzugucken, alles hinzunehmen - genau das kommt für die Frau, die demonstrativ Blumen vor dem Denkmal einer ukrainischen Schriftstellerin in einem kleinen Moskauer Park niedergelegt hat, nicht in Frage.
Unbeeindruckt davon, dass die Polizei sie beobachtet, spricht sie vor laufender Kamera offen von einem Krieg, den Russland in Person von Wladimir Putin entfesselt habe. Von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit. "Ich schäme mich. Ich habe Verwandte in der Ukraine, ich unterstütze sie. Und ich bin entsetzt, was mein Staat getan hat."
Großer Mut für kleine Gesten
Die Frau mit der grauen Mütze ist eine von vielen, die im Januar vor dem Denkmal Spielzeuge und Blumen niederlegen, Kerzen entzünden, um der vielen, auch zivilen Opfer in der Ukraine zu gedenken. Manche beten. Einige knien nieder.
Es sind kleine Gesten, die großen Mut erfordern. Denn die Polizei hat mit Einsatzfahrzeugen und Blaulicht vor dem eigentlich unscheinbaren Monument Stellung bezogen. Und greift immer wieder ein. Es vergehe kein Tag, sagt die Frau am Denkmal, an dem sie nicht in irgendeiner Form gegen den Krieg protestiere. Trotz der Gefahr, deshalb vor Gericht zu landen.
Angesichts dessen, was in Russland passiere, verstehe sie, dass viele Menschen Angst hätten. "Aber ich glaube, dass all dies nie hätte passieren dürfen. Es tut mir weh. Das ganze Jahr schon tut es mir weh."
Das Denkmal der ukrainischen Schriftstellerin Lesja Ukrainka in einem Moskauer Park. Viele Menschen gedenken hier der ukrainischen Opfer - trotz der starken Polizeipräsenz.
Mehr als 19.000 Festnahmen
Weit mehr als 19.000 Festnahmen hat das Bürgerrechtsportal OVD-Info im vergangenen Jahr mit Blick auf Anti-Kriegs-Proteste verzeichnet. In der ersten Phase nach dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine hätten sich vor allem diejenigen vor Gericht verantworten müssen, die an Demonstrationen teilgenommen hätten, sagt die Juristin Darja Korolenko.
Später sei dann auch gegen jene vorgegangen worden, die sich kritisch in den sozialen Netzwerken geäußert hätten. "Und dann gibt es noch die Kategorie jener, die Flugblätter kleben, Anti-Kriegs-Slogans verbreiten, was Falsches im Einkaufszentrum gesagt oder das Z-Symbol von einem Auto abgerissen haben", sagt Korolenko.
"Mehr Kriegsgegner, als es scheint"
Es gebe weit mehr Kriegsgegner, als es scheine und als das System glauben machen wolle. Davon ist auch der Oppositionspolitiker Ilja Jaschin überzeugt. Für ihn ist derjenige ein echter Patriot, der gegen den Krieg ist und dies auch offen ausspricht. Denn der Krieg schade aus seiner Sicht den nationalen Interessen Russlands.
Es ist eine Haltung, für die Jaschin einen hohen Preis zahlt. Er wurde wegen Verbreitung von Falschinformationen über die russischen Streitkräfte zu achteinhalb Jahren Straflager verurteilt.
Denn für die Staatsmacht gilt schon lange wieder das alte Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Wer sich kritisch äußert oder gar das Land verlässt, wird schnell als Verräter abgestempelt. Weshalb es viele inzwischen vorziehen, nichts zu sagen und das Leben so zu leben, als sei vor einem Jahr nichts Gravierendes passiert.