Auf dem Grab von Alexej Nawalny auf dem Borisowskoje-Friedhof in Moskau (Russland) liegen zahlreiche Blumen.

Ein Jahr nach Tod des Kreml-Kritikers Nawalnys Platz bleibt leer

Stand: 16.02.2025 04:21 Uhr

Ein Jahr nach dem Tod des Kreml-Kritikers Nawalny sind Andersdenkende in Russland weiter in großer Gefahr. Die staatliche Repression ist hoch, in der Bevölkerung gibt es kaum Protestbereitschaft. Und die Opposition ist uneinig.

Von Silke Diettrich, ARD-Moskau

Ein kleines Meer aus frischen roten Rosen. Die riesigen Schwarzweiß-Bilder von Alexej Nawalny versinken fast darin. Auf dem Friedhof im Südosten von Moskau kann man sein Grab nicht übersehen: Noch stehen seine Portrait-Fotos angelehnt an einem großen Kreuz auf dem Grab, in anderen Teilen von Russland haben Gerichte Bilder von ihm als extremistisch eingestuft.

Gedenken an verstorbenen Kreml-Kritiker Alexej Nawalny

tagesschau24, 16.02.2025 11:00 Uhr

An einem normalen Wochentag sind nur wenige Leute hier - kaum jemand spricht. An jeder Ecke des Friedhofs hängen Überwachungskameras.

"Das interessiert mich nicht so"

Im Zentrum von Moskau haben Kollegen von der Nachrichtenagentur AFP bei jungen Leuten nachgefragt, welche Bedeutung Nawalny heute noch für sie hat. Viele zucken mit den Schultern.

Auch Anastasia sagt, dass sie eigentlich keine Ahnung habe, wer dieser Nawalny eigentlich sei. Die 18-jährige Studentin sagt, sie kenne gerade mal seinen Namen: "Keiner meiner Freunde hat mir etwas über ihn erzählt. Generell gibt es nirgends Informationen über ihn, aber das interessiert mich auch nicht so."

Tausende Russen versammeln sich am 1. März 2024 in Moskau (Russland) zur Beisetzung von Alexej Nawalny.

Als Alexej Nawalny am 1. März 2024 in Moskau beigesetzt wurde, versammelten sich Tausende Russen auf dem Borisowskoje-Friedhof - trotz des Risikos, dass sie damit eingingen.

"Viele haben Angst, über diesen Mann zu sprechen"

Kein politisches Interesse? Das mag auch einer der Gründe sein, warum es scheint, dass das Erbe von Nawalny in Russland in Vergessenheit gerät. Zudem berichteten die wichtigsten staatlichen Medien kaum über ihn, als er noch in Haft war.

Viele aber, so sagt es auch die Kunststudentin Victoria, trauten sich gar nicht mehr, über ihn zu reden: "Mir scheint, die jungen Leute haben Angst, über diesen Mann zu sprechen, weil wir in ziemlich unruhigen Zeiten leben."

Auch online will niemand mehr über Politisches posten. Das könne sich negativ auswirken: "Niemand will diese Probleme haben und die jungen Leute versuchen, diese Themen in keiner Weise anzusprechen."

Protestbereitschaft auf Tiefpunkt

Das belegen auch repräsentative Umfragen, die das unabhängige Moskauer Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum durchführt. Das Institut kann noch in Russland arbeiten, allerdings hat Justizministerium es vor Jahren als "ausländischen Agenten" eingestuft.

Vor zwei Monaten hat das Lewada-Zentrum eine Umfrage veröffentlicht, in der danach gefragt wurde, wie hoch die Bereitschaft der Menschen in Russland sei, zu Protesten auf die Straße zu gehen.

Sie sei auf einem historisch niedrigen Tiefstand angelangt, sagt der Direktor des Lewada-Instituts, Denis Wolkow. Nicht einmal zehn Prozent der Menschen seien derzeit bereit, öffentlich zu demonstrieren.

Hohes Risiko, festgenommen zu werden

Ein Protest im heutigen Russland werde in erster Linie als nutzlos empfunden. Er werde darüber hinaus aber durchaus auch als ein gefährliches Instrument wahrgenommen.

Wer zu einer nicht genehmigten Demonstration gehe, gehe ein großes Risiken ein, "festgenommen zu werden und auch, dass man möglicherweise zur Polizeistation gebracht wird und einem mit einem Schlagstock auf den Kopf gehauen wird. All die Risiken sind vorhanden, und die Menschen wissen das."

Selbst Anwälte kommen ins Lager

Vor einem Monat sind die Anwälte von Nawalny zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Laut Urteil müssen sie ins Straflager. Die Begründung: Die drei Anwälte seien Teil einer extremistischen Organisation: Damit ist die von Nawalny gegründete Stiftung zum Kampf gegen Korruption gemeint.

Viele Menschen, die die Ideen von Nawalny heute noch offen unterstützen, sitzen im Gefängnis oder sind ins Ausland geflohen. Ein potenzieller Nachfolger für Nawalny sei nicht in Sicht, sagt Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik:

"Nawalny war eine Ausnahmeerscheinung. Er war sowohl ein Medientalent als auch ein Charismatiker. Jemand, der das System sehr gut kannte und letztlich nicht klein zu kriegen war." Auch unter den schwierigsten Bedingungen habe er weitergemacht und sich gewehrt: "So eine Person gibt es momentan nicht in Russland."

Opposition mit sich selbst beschäftigt

Das gelte auch für die Opposition im Ausland. Die sei vor allem mit sich selbst beschäftigt und bekämpfe sich gegenseitig. Außer dem gemeinsamen Ziel, dass man Putin weghaben möchte, gebe es kein gemeinsames Programm.

Eine Massenbewegung in Russland zu erschaffen, wie Nawalny das einst konnte, traut der Politikwissenschaftler Stefan Meister derzeit niemandem zu. Die Opposition in der Diaspora sei letztlich irrelevant für Russland selbst.

"Es sind einfach relativ unbedeutende Figuren mit Blick auf die Resonanz in der russischen Gesellschaft. Mit begrenzten Ressourcen, mit begrenzter Reichweite."

Sie hätten nicht einmal die Fähigkeit, eine Bewegung zu entwickeln, die politisch in irgendeiner Hinsicht eine Rolle spielen könne für das zukünftige Russland.

"An einem Tiefpunkt angelangt"

Also: Keine charismatische Oppositionsfigur, Angst vor dem russischen Regime und allgemeines Desinteresse an Politik in Russland? Nicht bei allen Menschen im Land. Auf der der Beerdigung von Nawalny im vergangenen Jahr wagten sich tausende Menschen auf den Friedhof.

Dass der wichtigste Anführer der Opposition im Gefängnis gestorben war, sei für viele ein großer Schock gewesen, sagt Oksana, die im Großraum von Moskau lebt und mit uns per Video spricht:

"Sein Tod zeigte zumindest, dass die Menschen so besorgt waren, dass sie trotz aller Risiken zur Beerdigung gingen. Sie hatten keine Angst, dort Blumen niederzulegen." Das sei auch für sie selbst sehr wichtig gewesen.

Dennoch sagt sie, dass der Tod von Nawalny für sie unerträglich war, "weil klar wurde, dass wir an einem weiteren schrecklichen Tiefpunkt angelangt waren. Und ja, es ist ja auch nicht klar, was alles noch als Nächstes passieren wird."

Vereinzelter Protest

Oksana wurde im vergangenen Jahr zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie gegen den Krieg protestiert hatte. Sie ist eine der wenigen, die sich dennoch weiterhin auf die Straße traut, um zu demonstrieren. Sie steht dort meist allein, hält ein Plakat in ihren Händen - lässt sich dabei filmen und stellt die Videos online.

Sie fordert die Freilassung von Menschen, die politisch verfolgt wurden und nun in Haft sitzen. Am Jahrestag von Nawalnys Tod wird Oksana nicht mehr ganz allein da stehen: Sie will zum Gedenken an Nawalny, wie andere Menschen auch, zu seinem Grab kommen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 16. Februar 2025 um 09:00 Uhr.