Ein Freiwilliger beim Training für den Einsatz in der ukrainischen Armee.
Reportage

Ukraine Dem Pflichtgefühl folgen - oder der Angst?

Stand: 15.07.2022 04:43 Uhr

Bei Kiew bekommen junge Ukrainer eine Schnellausbildung für den Kriegseinsatz. Viele handeln aus Pflichtgefühl und Empörung. Aber nicht jeder fühlt sich in der Lage, an die Front zu ziehen.

Von Marc Dugge, HR, zurzeit Kiew

Noch ist es der Gewitterdonner, der hier dröhnt - bald wird es für sie der Donner der Artillerie sein. Das Feld in der Nähe von Kiew ist ein Übungsgelände für jene, die an die Front gehen.

Soldaten simulieren, wie ein Kamerad in eine Mine tritt. Sie binden das Bein ab, um die Blutung zu stillen. Und legen den Mann in eine Folie, die ihn warmhalten soll, bis die Sanitäter eintreffen.

Für einen Soldaten namens Anton soll es bald in Richtung Osten gehen. Darauf bereite er sich jetzt vor, auch seelisch, erzählt er - obwohl es eigentlich gar nicht nötig sei: "Ich bin motiviert genug - dafür zu sorgen, dass der Krieg nicht bis hierhin kommt, zu meinem Kind."

Freiwillige trainieren für ihren Einsatz in der ukrainischen Armee.

Freiwillige lernen, wie sie einen durch eine Mine verletzten Kämpfer erstversorgen können.

Freiwillige an der Front einsetzbar

Anton hat nach dem russischen Angriff als Angehöriger der Territorialverteidigung, der Freiwilligenorganisation der Armee, geholfen, seine Stadt zu verteidigen. Diese Organisation hatte bis vor kurzem einen klaren Auftrag: Sie sollte Regionen im Land gegen Angreifer wappnen. Jetzt können die Freiwilligen auch an der Front eingesetzt werden, eine Gesetzesänderung macht es möglich.

Für Anton ist es keine Frage, dass er gehen wird - trotz aller Ängste, die unter Beschuss natürlich aufkommen würden: "Nur ein dummer Mensch würde da keine Angst haben", sagt er.

Aber, sagt er weiter, wenn man die Wahl habe, nur herumzusitzen und zu warten oder den Feind aufzuhalten, "dann entscheide ich mich natürlich dafür, zu gehen". So wolle er versuchen, "das Böse auszurotten, das in unser Land gekommen ist."

Wehrfähige müssen sich bereithalten

In der Ukraine melden sich seit Kriegsbeginn viele freiwillig, um ihr Land zu verteidigen. Sie werden dann für den Einsatz an der Front geschult. Alle anderen Männer im wehrfähigen Alter müssen sich zumindest bereithalten. Ihnen ist es verboten, die Ukraine zu verlassen.

Der Generalstab wollte in der vergangenen Woche noch weitergehen. Er wollte die Männer dazu verpflichten, sich schon dann bei den Behörden zu melden, wenn sie nur ihre Region verlassen wollen. In den sozialen Netzwerken gab es einen Aufschrei. Präsident Wolodymyr Selenskiy pfiff die Militärführung daraufhin zurück.

Erschöpfte Soldaten sollen abgelöst werden

Der Vorstoß lässt vermuten, dass die Militärs Sorge haben, nicht genug Personal zu haben; Soldaten, die sie schnell an die Frontlinie schicken können, um die Truppen dort zu verstärken und die müden Soldaten abzulösen.

Freiwillige trainieren für ihren Einsatz in der ukrainischen Armee.

Freiwillige trainieren bei Kiew für ihren Einsatz in der ukrainischen Armee.

Aber darauf ist nicht jeder erpicht. "Ich bin doch kein Krieger, ich bin Zivilist!", sagt der 25-jährige Sergiy. Er sitzt in einem Café in Kiew, seinen echten Namen will er nicht nennen. Ihm steckt immer noch der Schrecken vom Frühjahr in den Knochen, als die russischen Truppen nur wenige Kilometer vor Kiew waren.

Jedes Mal, wenn es Luftalarm gibt, steige wieder die Angst in ihm hoch. Er verstehe ja, dass das Land dringend Soldaten brauche, sagt er. Aber er habe nun mal nicht die Anlagen zum Krieger.

Angst vor einer Vorladung

Sergiy glaubt auch nicht, dass es mit einer militärischen Expressausbildung getan ist. Man sehe ja, wie jeden Tag Menschen zu Hunderten beerdigt werden: "Da verstehst Du, dass du dein Leben aufs Spiel setzt." Jeder mache sich Sorgen, hat er beobachtet, und manche Leute blieben sogar ganz zu Hause, gingen nicht ins Kino, ins Theater oder auf öffentliche Plätze.

Sie hätten Angst davor, von Soldaten den Brief in die Hand gedrückt zu bekommen - die Vorladung zum Kreiswehrersatzamt, wo die Wehrtauglichkeit festgestellt wird.

Auch die Frauen hätten Angst. Auf seinem Smartphone zeigt er ein Video auf Youtube, das Frauen in einem Dorf zeigt, die sich vor Soldaten stellen und die diese erfolgreich davon abhalten, ihre Männer zu rekrutieren.

Freiwillige trainieren für ihren Einsatz in der ukrainischen Armee.

Die Freiwilligen machen sich keine Illusionen darüber, wie die Bedingungen am Einsatzort sein werden.

Ausblick mit Sorgen

Aber natürlich machen sich auch jene Sorgen, die sich auf den Weg machen. So wie Jarik, 31 Jahre alt. Vor ein paar Monaten hat er Kiew verteidigt, als Freiwilliger in der Territorialverteidigung. Jetzt ist er schon fast auf dem Weg in den Donbass und weiß: "Die Lage ist schwierig dort, sehr schwierig."

In Gesprächen mit Soldaten hört er, wie dort "Tag und Nacht" Städte bombardiert werden. "Wo die Russen hinkommen, bleiben nur Ruinen", sagt er und bekräftigt: "Unsere Jungs dort brauchen Hilfe! Der Kampfgeist macht Dich wütend."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 14. Juli 2022 um 07:39 Uhr.