Kämpfe um Soledar und Bachmut "Mehr politische als strategische Bedeutung"
Sind die umkämpften Städte Soledar und Bachmut strategisch tatsächlich so wichtig? Eher nicht, sagt Militärexperte Gady. Vor allem dem Kreml gehe es eher um einen politischen Erfolg. Verkalkuliert sich die ukrainische Führung?
tagesschau.de: Welche Bedeutung haben die Kämpfe um Soledar und Bachmut im Gesamtkontext des Krieges?
Franz-Stefan Gady: Ich würde die Bedeutung dieser Kämpfe nicht allzu hoch einstufen. Die strategische Gesamtsituation an der Front würde sich nicht erheblich verändern, falls Soledar und Bachmut fallen würden. Es ist weiterhin ein Abnützungskrieg. Und es geht Russland aus rein militärischer Perspektive nicht so sehr darum, Territorien einzunehmen, sondern vielmehr darum, die ukrainischen Streitkräfte auszubluten und zu binden und dadurch zu verhindern, dass es zu einer Bodenoffensive - zum Beispiel von Saporischschja aus mit Stoßrichtung Melitopol - kommt.
In den kommenden Wochen und Monaten werden die zusätzlichen etwa 200.000 Mann, die von den russischen Streitkräften mobilisiert wurden, zum Einsatz kommen - im Moment befinden sich ja geschätzt circa 100.000 in der Ukraine im Einsatz. Und dann könnte eine Offensive im Raum Charkiw oder von Belarus aus stattfinden.
Ich halte allerdings die Erfolgsaussichten, sollte Kiew aus Richtung Belarus angegriffen werden, für relativ gering. Aber es ist ein zusätzliches Problem, mit dem sich der ukrainische Generalstab herumschlagen muss.
"Der Kreml braucht einen Sieg"
tagesschau.de: Wie groß ist denn der strategische Wert von Soledar und Bachmut?
Gady: Der Wert dieser Städte ist nicht so sehr ein strategischer, obwohl man festhalten sollte, dass Bachmut ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt in der Region ist. Vielmehr geht es darum, dass beide Seiten erklärt haben, dass diese Stadt wichtig ist, weil sie wichtig ist.
Ich glaube, dass Bachmut vor allem für den Kreml eine politische Bedeutung hat. Er braucht einen Sieg der russischen Einheiten. Hier spielen interne Faktoren hinein, wenn Sie bedenken, dass der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow und der Chef der Wagner-Söldner, Jewgenij Prigoschin, mehrmals hervorgehoben haben, dass ihre Einheiten in den vergangenen Monaten Geländegewinne erzielen konnten.
Ein Erfolg in Soledar und Bachmut wäre ein Sieg für die russischen Streitkräfte. Und der Erfolg würde sich vor allem dadurch definieren, dass den ukrainischen Streitkräften enorme Verluste beigefügt wurden. Selbstverständlich sind sie auf russischer Seite auch enorm hoch, auch unter den Wagner-Söldnern, wo von den 50.000, die mobilisiert wurden, vermutlich 10.000 bis 15.000 Söldner bereits gefallen oder verwundet worden sind.
"Möglicherweise Fehlkalkulation der ukrainischen Führung"
tagesschau.de: Ist es überhaupt strategisch sinnvoll, dass die Ukrainer an dieser Stelle so dagegen halten, anstatt die Kräfte für andere Kämpfe zu schonen?
Gady: Hier kann ich nur spekulieren, was das Handeln der ukrainischen politischen Führung bestimmt. Möglicherweise ist es hier zu einer Fehlkalkulation gekommen.
Im vergangenen Sommer hat sie in den Kämpfen um Severodonezk und Lyssytschansk schon einmal die Devise ausgegeben, nicht zurückzuweichen. Das hat zwar zu enormen Verlusten auf ukrainischer Seite geführt, mehr noch aber bei den russischen Streitkräften. Damals gab es auf russischer Seite einen enormen Mangel an Infanterie, also an Fußsoldaten, und Reserven allgemein. Jetzt gibt diesen Mangel auf russischer Seite nicht, weil sie in der Region Reserven hat, wenn auch schlecht ausgerüstet und ausgebildet, die sie in den Kampf reinwerfen kann.
Dunkelgrün: Vormarsch der russischen Armee. Schraffiert: Von Russland annektierte Gebiete.
Bachmut hat geringe militärische Signifikanz. Möglicherweise war es die russische Idee, dieser Stadt eine politische Bedeutung zu geben und dadurch die Ukrainer hier in einen Abnützungskampf zu locken, so dass es zu keiner Winteroffensive der Ukrainer kommt oder sie ihre angekündigte Frühjahrsoffensive verschieben müssen.
Kommt jetzt tatsächlich keine größere Offensive von ukrainischer Seite, könnte das ein Indiz sein, dass dieser Abnutzungseffekt eingetreten ist und die ukrainischen Streitkräfte im Moment nicht fähig sind, offensive Operationen durchzuführen. Wir wissen von mehreren Berichten verschiedener Nachrichtendienste, dass auf beiden Seiten die Munition knapp wird.
"Unrealistisch, dass die russischen Streitkräfte Kiew einnehmen könnten"
tagesschau.de: Es wird derzeit häufig spekuliert, dass es zu einer neuen russischen Offensive auf die Hauptstadt Kiew kommen könnte - Sie haben das eingangs bereits angesprochen. Sehen Sie Anzeichen dafür? Und wie wären die Erfolgsaussichten?
Gady: Das bleibt eine Möglichkeit. Die Frage ist nur: Was für ukrainische Kräfte würde es binden? Und wären die Erfolgsaussichten für die russischen Streitkräfte besser als im Februar 2022, wo es mit erheblich mehr russischen Truppen und einem aus ihrer Sicht besseren Kräfteverhältnis schon nicht funktioniert hat?
Um Kiew im Häuserkampf zu erobern, würde man wahrscheinlich zumindest 200.000 bis 300.000 Soldaten benötigen. Es ist völlig unrealistisch, dass die russischen Streitkräfte zu diesem Zeitpunkt Kiew einnehmen, weil die Kräfte einfach nicht vorhanden sind.
"Beide Seiten haben dazugelernt"
tagesschau.de: Und die ukrainischen Streitkräfte haben seit Februar dazugelernt.
Gady: Ja, sie sind auf einen Angriff gut vorbereitet, und wissen, aus welchen Stoßrichtungen er stattfinden könnten. Vorbereitungen auf belarusischer und russischer Seite würden nicht verborgen bleiben.
Ich rechne auch deshalb mit keinen großen Erfolgschancen der russischen Streitkräfte, weil der Nachschub sich enorm schwierig gestalten würde. Es gibt nach wie vor keine Luftüberlegenheit, es gibt nur wenige Straßen, die dort befahren werden könnten sowie ein limitiertes Schienennetzwerk.
Die ukrainischen Streitkräfte haben jetzt viel mehr Erfahrung in der Verteidigung, sind zahlenmäßig stärker und verfügen über gut ausgebaute, gestaffelte Verteidigungsstellungen. Auch der taktische Überraschungsmoment würde für die russischen Streitkräfte nicht gegeben sein, dank gute funktionierender ukrainischer und westlicher Feindaufklärung.
Allerdings haben auch die Russen dazugelernt, das wird oft unterschlagen. Beide Seiten haben sich angepasst und versuchen neue operative Konzepte anzuwenden, wie man den Gegner auf dem Gefechtsfeld besiegen kann.
"Es geht darum, irgendwann den Kampfeswillen zu brechen"
tagesschau.de: Gleichwohl ist kaum vorstellbar, dass die russischen Streitkräfte sich mit dem Status Quo zufriedengeben würden, zumal der Effekt der Mobilisierung ja noch nicht zur Gänze ausgeschöpft ist.
Gady: Das Hauptziel der russischen Streitkräfte sind rein militärisch gesehen nicht so sehr großartige schnelle Gebietsgewinne. Es geht ihr vielmehr darum, ukrainische Streitkräfte in anderen Regionen des Landes zu binden, ihnen erhebliche Verluste beizufügen und so irgendwann den Kampfeswillen zu brechen. Beziehungsweise diesen Konflikt in die Länge zu ziehen, bis die westliche Unterstützung einknickt.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de