Militäranalyst im Gespräch "Die ukrainische Offensive war schlecht geplant"
Die ukrainische Offensive läuft langsam, aber stetig, sagt der Militäranalyst Gady nach einem Besuch an der Front. Die Militärführung habe den Einsatz schlecht organisiert, inzwischen aber Lehren gezogen. Was heißt das für den Kriegsverlauf?
tagesschau.de: Sie waren kürzlich mit anderen Militäranalysten aus unterschiedlichen Ländern in der Ukraine und an verschiedenen Abschnitten der Front. Wie verläuft Ihrer Einschätzung nach die ukrainische Gegenoffensive?
Franz-Stefan Gady: Sie geht langsam stetig voran, wahrscheinlich mit signifikanten Verlusten und ist gekennzeichnet durch den massiven Einsatz von Artillerie. In den ersten Tagen war die Offensive vor allem durch Angriffe von mechanisierten Verbänden geprägt, also von Kampf- und Schützenpanzern. Das hat zu keinem durchschlagenden Erfolg geführt. Inzwischen hat man auf Angriffe umgestellt, die sehr auf die Infanterie setzen, also auf Angriffe von Kompanien, Gruppen oder Zügen.
Franz-Stefan Gady ist unabhängiger Analyst und Militärberater. Darüber hinaus ist er Senior Fellow am Institute for International Studies in London und Adjunct Senior Fellow am Center for New American Security in Washington DC. Er berät Regierungen und Streitkräfte in Europa und den Vereinigten Staaten in Fragen der Strukturreform und der Zukunft der Kriegsführung. Feldforschungen und Beratungstätigkeiten führten ihn mehrmals in die Ukraine, nach Afghanistan und in den Irak, wo er die ukrainischen Streitkräfte, die afghanische Armee, sowie NATO-Truppen und kurdische Milizen bei verschiedenen Einsätzen begleitete. Er ist auch Reserveoffizier. Im Oktober erschien sein Buch "Die Rückkehr des Krieges".
"Fehler auf höherer Ebene"
tagesschau.de: Woran lagen denn die Misserfolge in der ersten Phase der Offensive - an taktischen Fehlentscheidungen oder an mangelnder Ausbildung an den neuen Waffensystemen?
Gady: Die Fehler sind vor allem auf der höheren Ebene zu suchen. Der Einsatz war schlecht geplant und organisiert. Es gab eine mangelnde Koordination der vorstoßenden Einheiten.
Beim Kampf der verbundenen Einheiten geht es um Synchronisation, um die knappe und möglichst simultane Anwendung verschiedener militärischer Ansätze. Die Artillerie feuert, und in diesem Deckmantel geht die ukrainische Infanterie vor. Kurz vorher werden die Minen aus dem Weg geräumt, gleichzeitig werden Druck- und Raketenabwehrsysteme aufgefahren, die einen Schutz vor Helikopter- oder anderen Luftangriffen schaffen. Zugleich wird mit Störsendern ein elektromagnetischer Schutz aufgebaut.
Die Stärke des einen Systems gleicht die Schwäche des anderen aus. Wenn das schnell und gleichzeitig geschieht, erhöht es die Chance, dass es zu einem Durchbruch kommt und die eigenen Verluste verringert werden.
"Die Russen konnten sich vorbereiten"
tagesschau.de: Was ist stattdessen geschehen?
Gady: Wir haben oft gehört, dass die Einsätze sequentiell stattfanden, also aufeinanderfolgend und mit großen Abständen. Die Artillerie hat russische Stellungen beschossen, teilweise schlecht getroffen, und irgendwann später ist der Angriff erfolgt. Dadurch wussten die Russen, dass ein Angriff kommt, konnten sich darauf vorbereiten und ihre Einheiten entsprechend verschieben.
Außerdem haben die mechanisierten Verbände den Einsatz von russischen Kamikazedrohnen auf sich gezogen, die die Fahrzeuge gefechtsunfähig machen, und nachfolgend von Artillerie, die die Fahrzeuge zerstört.
Zu wenig Waffenlieferungen? "Das Problem ist das Fehlen des verbundenen Ansatzes"
tagesschau.de: Die Ukrainer haben immer wieder auf ihre mangelnde Flugabwehr hingewiesen. Hat sich das auch hier bemerkbar gemacht?
Gady: Natürlich macht sich hier der Mangel an Flugabwehrsystemen von kurzer und mittlerer Reichweite bemerkbar, auch an Pioniergerät und Minenräumgeräten. Aber das Problem ist vor allem das Fehlen des verbundenen Ansatzes. Manche Sicherheitsexperten erklären den Verlauf der Offensive aus politischen Gründen damit, dass der Westen zu wenig liefere. Aber das sind nicht immer Militäranalysten, die Einsicht in die Lage vor Ort haben. Deshalb möchte ich die monokausale Erklärung nicht so stehen lassen.
Der Verlauf der Offensive erklärt sich vor allem daraus, dass das gelieferte Gerät nicht im Verbund eingesetzt wurde, wo das einzelne System seine Fähigkeiten am besten entfalten kann. Das würde im übrigen auch für die geforderte Lieferung von Kampfflugzeugen gelten. Ohne effektiven Kampf der verbundenen Waffen würde auch das Potential solcher Waffen nicht voll ausgeschöpft werden können.
"Kaum jemand kann Expertise anbieten"
tagesschau.de: Sie haben die Bedeutung des Kampfes der verbundenen Einheiten auch in früheren Gesprächen betont, damals aber vor allem russische Defizite hervorgehoben. Gab es diese Defizite der Ukrainer auch schon zu Kriegsbeginn oder haben sie sich verstärkt?
Gady: Keine Streitkraft der Welt hat derzeit praktische Erfahrungen damit, wie man ein so dichtes und tief gestaffeltes Verteidigungssystem, wie die Russen es im Süden und im Osten der Ukraine etabliert haben, im Kampf der verbundenen Waffen überwinden kann. Eine solche Art der Verteidigungsanlagen haben wir seit Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa nicht mehr gesehen.
Hier kann kaum jemand der Ukraine seine Expertise anbieten. Die einzigen, die limitierte Erfahrungen mit dem koordinierten Einsatz von Großverbänden haben, sind die Vereinigten Staaten, und die können nicht alles machen. Deswegen ist es gerade auch in der ersten Phase der Gegenoffensive stark um "Trial and Error" gegangen. Aber die Ukrainer haben ihre Lehren gezogen.
Strukturreform mitten im Krieg
tagesschau.de: Das bedeutet auch, dass die Ausbildung an den neuen Waffensystemen nicht das Problem war?
Gady: Die Qualität der Ausrüstung und des Trainings individueller Soldaten war sehr gut. Das wurde uns mehrmals mitgeteilt, und das konnten wir auch beobachten. Das Problem ist vielleicht mehr bei der Stabsausbildung für höhere Offiziere zu suchen.
Sie müssen auch die Ausgangslage bedenken. Die ukrainischen Streitkräfte stehen in einem hochintensiven Krieg gegen eine der bedeutendsten Streitmächte der Welt, einen zahlenmäßig deutlich überlegenen Gegner. Sie haben enorme Verluste erlitten und befinden sich gleichzeitig inmitten einer Strukturreform.
Sie stellen auf neue Gerätschaften, Waffensysteme und Plattformen um, müssen neue Logistikketten aufbauen, alles miteinander gut integrieren und dann noch neue Taktiken entwickeln, der ihren Stärken gerecht werden. Das würde jede Streitkraft der Welt vor Herausforderungen stellen und ihr ähnliche Probleme bereiten.
"Fortschritt wird in Metern gemessen"
tagesschau.de: Was bedeutet die Umstellung der Strategie für den zeitlichen Verlauf der Offensive?
Gady: Jetzt ist alles auf die Infanterie umgestellt, auf Operationen, die zu Fuß durchgeführt werden. Jeder Angriff und jeder Fortschritt wird nicht in Kilometern, sondern in Metern gemessen. Munition muss zu Fuß nach vorne gebracht, Verwundete zu Fuß abtransportiert werden, weil man die eigenen Fahrzeuge nicht der russischen Artillerie oder den Kamikazedrohnen aussetzen will. Dieser Radius des Fußes anstatt des Rads oder der Kette verlangsamt Operationen natürlich.
"Soldaten und Offiziere sind weiter optimistisch"
tagesschau.de: Wie wird das von den Soldaten und Offizieren an der Front wahrgenommen?
Gady: Die Moral ist grundsätzlich noch sehr gut. Man hört zwar teilweise Kritik durch, aber das liegt in der Natur der Sache und kommt in jeder Streitkraft vor. Unser Eindruck war, dass die Offiziere und Soldaten einzuschätzen wissen, woher ihre Probleme rühren, sie aber weiter optimistisch sind und glauben, dass Fortschritt möglich ist. Aber sie wissen auch, dass es wahrscheinlich deutlich länger dauern wird, als man gedacht hat und dass diese Offensive mit großer Wahrscheinlichkeit in den Herbst gehen wird.
"Irgendwann wird es Munitionsknappheit geben"
tagesschau.de: Wird dadurch das Thema Munition eine größere Rolle spielen?
Gady: Die Ukraine hat dezidiert eine Abnutzungsstrategie gewählt. Sie versucht, durch massives Artilleriefeuer die russischen Stellungen aufzuweichen und dann durch Infanterieangriffe langsam durch russische Verteidigungsanlagen durchzubrechen. Aber es ist ein stark feuerbasierter Ansatz, und daher wird die Munition, die für die Offensive bereitgestellt wurde, schneller verbraucht als gedacht.
Daher ist durch die Entscheidung, Streumunition zu liefern, gewährleistet, dass die Offensive noch länger laufen kann. Gleichzeitig ist hier das klare Signal, dass die Europäer und Amerikaner darüber hinaus nicht mehr so viel geben können. Irgendwann wird es wahrscheinlich eine gewisse Munitionsknappheit geben.
"Russsische Streitkräfte verteidigen sich zäh"
tagesschau.de: Haben Sie den Eindruck, dass die Unruhe in der russischen Armee, der Streit um die Führung, das Aufbegehren der Wagner-Truppe und die Absetzungen führender Offiziere die Schlagkraft der russischen Streitkräfte beeinflusst haben?
Gady: Die Hoffnungen, dass die russischen Streitkräfte kollabieren, halte ich für recht gering, es ist aber durchaus möglich. Die Moral in den Streitkräften ist seit Beginn des Angriffskrieges niedrig. Wir haben auch jetzt an der Front immer wieder Anekdoten von Choleraausbrüchen, von Unterernährung, von Befehlsverweigerung gehört.
Aber Fakt ist: Die russischen Streitkräfte verteidigen sich zäh und halten ihre Stellungen. Das konnten wir beobachten. Und es gibt bei den Ukrainern einen Respekt für die Effizienz und den Durchhaltewillen der russischen Armee.
Natürlich haben auch die Russen Munitionsdefizite und haben ihre Feuerrate reduziert. Aber weil die Ukrainer jetzt in kleineren Verbänden vorgehen, reicht es oft aus, ukrainische Angriffe im kleineren Rahmen mit der noch existierenden Artilleriemunition zu verzögern - anders als im vergangenen Sommer, als die Russen in der Offensive waren. Jetzt sind sie in der Defensive. Das alles sind Indizien dafür, dass die russischen Stellungen trotz aller Mängel halten werden.
tagesschau.de: Das klingt danach, dass der Krieg in ein drittes Jahr gehen wird.
Gady: Ich sehe nicht, dass es aus rein militärischer Perspektive in den kommenden Monaten zu einem Ende der Kampfhandlungen kommt. Mit Wahrscheinlichkeit wird dieser Krieg auch ins nächste Jahr gehen.
Konvois auf dem Schwarzen Meer? "Wäre damit sehr vorsichtig"
tagesschau.de: Zugleich wird diskutiert, ob nach dem Ende des Getreide-Deals westliche Konvois Getreidelieferungen über das Schwarze Meer absichern könnten. Ist das eine realistische Option?
Gady: Sollte es solche Konvois geben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zwischen der russischen Marine und den Staaten, die diese Konvois zusammenstellen, zu einer militärischen Konfrontation kommt. Die russische Schwarzmeerflotte ist zwar isoliert und teilweise gibt es dort erhebliche Mängel, was die Einsatzbereitschaft einzelner Schiffe und U-Boote betrifft. Aber sie hat weiter ein großes Zerstörungspotential.
Es ist extrem schwierig, eine Seeblockade zu brechen, die Minen zu räumen und das Meer für die zivile Schifffahrt zu öffnen. Man muss sich bewusst sein, dass das in eine direkte Konfrontation münden kann - und zu Verlusten. Deswegen wäre ich mit solchen Ideen sehr vorsichtig.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de