Interview zum Vormarsch der IS-Kämpfer im Irak "Der Westen muss militärisch eingreifen"
Mit brutalster Gewalt ziehen IS-Kämpfer durch den Irak, töten und vertreiben Tausende. Wer sind die Kämpfer? Weshalb sind ihre Gegner so machtlos? Und was könnte der Westen tun? Darüber hat tagesschau.de mit dem Nahost-Experten von der Osten-Sacken gesprochen.
tagesschau.de: Der Irak befindet sich nach dem IS-Vormarsch in einer tiefen politischen Krise. Was passiert da gerade im Irak?
Thomas von der Osten-Sacken: Diese dschihadistische Terrororganisation kontrolliert Teile von Syrien und dem Irak. Dort bringt sie mit heftiger Brutalität Minderheiten um, Christen, Jesiden. Sie bringt Frauen dazu, sich zu verschleiern oder das Haus nicht mehr zu verlassen und regiert dort mit nacktem Terror.
tagesschau.de: Wie konnte es dazu kommen?
Von der Osten-Sacken: Nach dem sehr frühzeitigen Abzug der Amerikaner 2010 haben sich die vielen ungelösten Probleme im Irak zugespitzt. Es leben in dem Land in der Mehrheit schiitische Araber, die beiden anderen großen Gruppen sind sunnitische Araber im Nordwesten des Landes und Kurden im Nordosten des Landes.
Der Iran als schiitisches Land hat sehr großen Einfluss auf die gegenwärtige Regierung von Nuri al-Mailiki. Dadurch wurde die Dominanz der Schiiten ausgebaut, was in den arabisch-sunnitischen Gebieten für großen Unmut gesorgt hat. Die Sunniten waren diejenigen, die die Diktatur von Saddam Hussein besonders gestützt und auch von ihr am meisten profitiert haben.
Als IS im Juni den Nordirak überrollt hat, ist die irakische Armee dort, in Mossul, auseinandergebrochen. Das lag auch an der verfehlten Politik, schiitische Soldaten in diese sunnitischen Gebiete fast wie Besatzungstruppen zu schicken. Seitdem etabliert sich dort diese Terrororganisation und hat dort ein sogenanntes Kalifat ausgerufen.
"Rückkehr ins Mittelalter - im Zeitalter von Chemiewaffen"
tagesschau.de: Ein Kalifat ausgerufen - was bedeutet das genau?
Von der Osten-Sacken: Die Grundidee aller islamischen Bewegungen - des IS, aber auch der Muslimbrüder oder der Hamas - ist zum einen, dass es in der islamischen Welt keine Trennung zwischen Staat und Religion geben soll. Zum anderen ist die gesamte islamistische Bewegung manisch besessen von der Vorstellung, dass die Schwächung und letztendlich alle Probleme der Region daher stammen, dass das Kalifat abgeschafft wurde, das bis 1922 aus Istanbul regierte.
Deshalb soll nun ein neues Kalifat errichtet werden, das die Gesetze des Islam, also der Scharia, umsetzt und zumindest die ganze islamische Welt unter seine Regierung bringen muss. Diese Vorstellung bezieht sich stark auf die alten Kalifate, die es in Damaskus und Bagdad im frühen Mittelalter gegeben hat. Es ist also eine Rückkehr ins siebte oder achte Jahrhundert - bloß im Zeitalter von Chemiewaffen und Mobiltelefonen.
"IS feiert brutalste Gewalt"
tagesschau.de: Mit welchen Methoden versucht IS das durchzusetzen?
Von der Osten-Sacken: Mit blankem Terror. Die Feier von brutalster Gewalt, mit der IS vorgeht, ist meiner Ansicht nach präzedenzlos, auch in der Geschichte des islamistischen Terrors. Ein Beispiel: In Mossul sind den IS-Kämpfern 1500 junge irakische Soldaten in die Hände gefallen. Man geht davon aus, dass diese alle exekutiert worden sind. Am Ende des Fastenmonats Ramadan wurde ein Video veröffentlicht, in dem diese Exekution regelrecht gefeiert wird.
Das ist ein hochprofessionell gemachtes Video. Unterlegt mit Koransuren sieht man diese jungen Männer weinen und um ihr Leben betteln, sie werden auf Lastwagen verladen und in die Wüste gebracht, wo sie mit Kopfschüssen oder Maschinengewehrsalven hingerichtet werden.
Ähnliche Videos gibt es von Steinigungen von Frauen, denen man Ehebruch vorgeworfen hat, oder von Kreuzigungen. Mit Kreuzigungen töten sie besonders häufig diejenigen Menschen, denen sie Abfall vom "richtigen Glauben" vorwerfen. Diese Videos haben zum einen den Zweck, die eigene Anhängerschaft zu vergrößern. Sie dienen aber natürlich auch der Einschüchterung und Abschreckung der Gegner.
"In ihrem individuellen Leben vergleichsweise gescheitert"
tagesschau.de: Wer sind die IS-Kämpfer, von wem werden sie unterstützt?
Von der Osten-Sacken: In den Ländern selbst haben sie keine breite Unterstützung, dort regieren sie mit Terror. Sie haben aber international Unterstützung, auch in Europa und den USA. Das sind besonders junge Männer, die etwa zwischen 17 und 30 Jahre alt sind und relativ perspektivlos. Sie sind nicht unbedingt arm, aber in ihrem individuellen Leben vergleichsweise gescheitert. Auf diese Männer hat der radikale Islam eine hohe Anziehungskraft. Auch aus Deutschland, England, Frankreich und den USA stammen hunderte junge, muslimische Männer, die nun in Syrien und dem Irak kämpfen.
"Junge Männer, perspektivlos, in ihrem individuellen Leben vergleichsweise gescheitert."
Dramatische Verbesserungen - bis 2010
tagesschau.de: Hat die westliche Politik im Irak versagt?
Von der Osten-Sacken: Es gibt ja nicht die eine westliche Strategie für den Irak. Der Irakkrieg 2003 hat den Westen gespalten in die "Koalition der Willigen" und die Koalition aus Deutschland und Frankreich in Fundamentalopposition dazu.
Die Demokratisierung des Irakes hat aber danach Fortschritte gemacht. Ich arbeite seit 20 Jahren im Irak, ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass sich die Lage dort in den Jahren 2008 bis 2010 dramatisch verbessert hat.
Erst jetzt, nach dem Abzug der Amerikaner, hat sich die Lage wieder verschlimmert, was aber auch daran liegt, dass man in Syrien nicht interveniert und den Bürgerkrieg dort völlig aus dem Ruder hat laufen lassen.
tagesschau.de: Kann der Westen jetzt überhaupt noch etwas tun?
Von der Osten-Sacken: Natürlich müsste der Westen jetzt geschlossen alles unternehmen, um die Ausbreitung von IS zu stoppen.
"Vor unseren Augen beginnen die ersten Kinder zu verdursten"
tagesschau.de: Auch militärisch?
Von der Osten-Sacken: Ich sage das besonders als Geschäftsführer einer humanitären Organisation nur ungern. Aber zunächst hilft in dieser Situation nur militärisches Eingreifen.
Vorgestern haben IS-Kämpfer im Nordirak etliche Angehörige der Religionsgemeinschaft der Jesiden getötet. Während wir hier reden, sind rund 200.000 Jesiden auf der Flucht. 100.000 weitere sind in die Berge geflüchtet, sie sitzen bei 40 Grad, ohne Nahrung und ohne Wasser auf dem Berg, wo sie sich vor den IS-Kämpfern verstecken. Es gibt keine Versorgung, keine Luftbrücke. Vor unseren Augen beginnen die ersten Frauen und Kinder zu verdursten. Das ist die aktuelle Lage.
Das wichtigste ist also, dass die IS-Kämpfer zurückgedrängt werden. Außerdem sind in der Region knapp zehn Millionen Menschen auf der Flucht. 9,5 Millionen von ihnen sind noch in der Region, Europa hat sich regelrecht abgeschottet und nimmt kaum Flüchtlinge auf. Flüchtlingslager ohne Perspektive sind aber Radikalisierungsbrutstätten, das wissen wir aus Erfahrung. Die Taliban sind in Flüchtlingslagern entstanden. Es muss außerdem eine langfristige Perspektive für die Region geben, eine Art Marshall-Plan.
Assad, Iran, IS: Völlig zerstritten - aber in einem Punkt einig
tagesschau.de: Was bedeutet die Entwicklung in Syrien und dem Irak für den gesamten arabischen Raum drei Jahre nach dem "Arabischen Frühling"?
Von der Osten-Sacken: Das ist jetzt ganz klar der Rückschlag. All diese Kräfte - ob es das Assad-Regime, der Iran oder IS ist - sind sich einig in ihrer panischen Angst davor, dass die Region sich demokratisieren könnte. All diese Forderungen nach Demokratie, nach rechtsstaatlichen Strukturen, nach Menschenrechten bedrohen all diese Machthaber in der Region - so zerstritten die Akteure untereinander auch sein mögen, in diesem Punkt sind sie sich einig.
Diejenigen aber, die in diesen Ländern für etwas anderes stehen und eine Demokratisierung wollen, haben keine Unterstützung, keine Waffen, können sich nicht wehren. Damit sind sie die ersten Opfer dieser Entwicklung. Da liegt das komplette Versagen des Westens: Es gibt keinerlei Strategie, wie man Menschen helfen kann in Konflikten, die man mit Verhandlungen und netten Gesprächen nicht lösen kann.
Das Interview führte Anna-Mareike Krause, tagesschau.de.