Interview

Bevölkerungswissenschaftler zum siebenmilliardensten Menschen "Ab 2070 wird die Weltbevölkerung schrumpfen"

Stand: 31.10.2011 03:19 Uhr

Wie viele Menschen genau auf der Erde leben, weiß niemand. Als zuverlässigste Quelle gelten die UN-Zahlen - und die sagen: Ab heute sind es sieben Milliarden. Zu viele? Nein, denn alle würden sitzend auf die Insel Mallorca passen, so der Experte Birg im tagesschau.de-Interview. Und 2070 werde es wieder leerer.

tagesschau.de: Ist es eine gute oder eine schlechte Nachricht, dass wir ab Montag sieben Milliarden Menschen auf der Welt sind?

Herwig Birg: Es kann keine schlechte Nachricht sein, weil mit jedem Menschenleben mehr Werte verbunden sind als Gefahren, Risiken oder Schäden. Die Natur selbst hat, bevor es den Menschen gab, mehr Spezies vernichtet, als wir es jemals tun können. Der Stellenwert der Zahl sieben Milliarden ist rein symbolisch. Es weiß ja niemand wirklich, wie viele Menschen genau auf der Erde leben. Schließlich verfügen die meisten Länder dieser Erde über keine brauchbaren Bevölkerungsstatistiken.

Herwig Birg
Zur Person
Herwig Birg ist Volkswirt und Demograph. Zwischen 1981 und 2004 leitete er den Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Bielefeld. Er gilt als einer der bedeutendsten Demographen Deutschlands und berät Verbände und öffentliche Auftraggeber zum Thema Bevölkerungsentwicklung.

tagesschau.de: Gibt es bei dem momentanen Wachstum der Weltbevölkerung denn irgendwann ein Platzproblem?

Birg: Nein, Platzmangel gibt es nicht. Man könnte die gesamte Menschen auf der Insel Mallorca in sitzender Stellung unterbringen, wo ist da ein Platzmangel? Der ist höchstens punktuell vorhanden, etwa im Nildelta, im Zentrum von Berlin oder in Manhattan.

Auch ein Ressourcenproblem gibt es nicht, denn die wichtigste Energiequelle, die Kohle, ist noch in relativ großem Ausmaß vorhanden. Und ein Ernährungsproblem haben wir ebenfalls nicht, weil die Produktivität der landwirtschaftlichen Flächen ausreicht, um das Siebenfache der jetzt lebenden Menschenzahl zu ernähren. Dazu müsste man aber die Ernte nicht an Vieh verfüttern, sondern auf tierische Eiweiße verzichten.

tagesschau.de: Also gibt es überhaupt keine Probleme im Zusammenhang mit dem Bevölkerungswachstum?

Birg: Es gibt ein ökologisches Problem, das wird von vielen Wissenschaftlern genannt und der Einwand ist durchaus richtig. Das Problem könnten wir aber lösen, indem wir unsere Volkswirtschaften anpassen. Das Wissen ist da, ein Vielfaches der heutigen Bevölkerung wie jetzt in Frieden und in paradiesischen Zuständen auf diesem Planeten leben zu lassen.

tagesschau.de: Wohlstand scheint das Bevölkerungswachstum zu begrenzen. Ist die kinderarme deutsche Wohlstandsgesellschaft demnach ein Vorbild für andere Staaten?

Birg: Alles deutet darauf hin, dass die Menschen in anderen Ländern genau so leben wollen, wie Deutsche oder Amerikaner heute. Durch die Informationstechnologie wissen die Menschen auf der ganzen Welt, welches Wohlstandsniveau der Westen hat und streben eine ähnliche Entwicklung an. Je schneller Länder wie China dieses Ziel erreichen, desto schneller wird sich auch das Bevölkerungswachstum in ein Schrumpfen umkehren.

tagesschau.de: Ist also ein Ende des Wachstums in Sicht?

Birg: Es ist nicht nur in Sicht, es ist ziemlich genau vorausberechnet. Ab 2070 werden wir eine Bevölkerungsschrumpfung und Stagnation haben, das haben meine Berechnungen ergeben.  Das Bevölkerungswachstum schwächt sich seit 1972 jedes Jahr ab. Damals lag es bei etwa zwei Prozent. Mittlerweile beträgt die Wachstumsrate noch ein Prozent und sie wird 2070 bei null Prozent liegen. Ähnliche Ergebnisse haben auch die Berechnungen der UNO ergeben.

tagesschau.de: Welche Erklärung haben Sie für diese Entwicklung?

Birg: Meine Theorie sagt, dass Menschen bei der Fortpflanzung nicht nach biologischen Impulsen handeln, so wie das bei Tieren ist. Es ist ja bekannt, dass Tiere desto mehr Nachwuchs zeugen je besser es ihnen geht. Bei Menschen ist das genau umgekehrt: Je mehr Kinder sie sich leisten könnten, desto weniger haben sie. Da sich erfreulicherweise das Entwicklungsniveau der Weltbevölkerung tendenziell erhöht, ist es verständlich, dass die Kinderzahl im Weltdurchschnitt abgenommen hat und weiter abnehmen wird. Das ist ein langfristiger Trend.

Geburtenrate in Afrika könnte rasch sinken

tagesschau.de: Momentan wächst die Bevölkerung aber noch. Das liegt vor allem an Afrika. Aus einer Milliarde Afrikanern heute werden bis zum Ende des Jahrhunderts rund drei Milliarden Menschen. Warum ist die Geburtenrate in Afrika so hoch, obwohl dort ein so großes Armutsproblem herrscht?

Birg: Weil das Entwicklungsniveau der Kontinente unterschiedlich voran kommt und in Afrika hinterher hinkt. Man muss die Gründe für die hohe Geburtenrate in Afrika genauer betrachten: Erstens liegt die Geburtenrate so hoch, um die hohe Kindersterblichkeit auszugleichen – drei von zehn Kindern sterben, bevor sie das Erwachsenenalter erreichen. Eine zweite Erklärung liegt in den irrationalen Gründen, Kinder zu bekommen. So wird in Afrika teilweise der Wert eines Menschen daran festgemacht, ob er Kinder hat oder nicht. Drittens gilt die Kopplung von Entwicklung an sinkende Geburtenraten in Afrika nicht wie anderswo, weil Afrika ein Mindestentwicklungsniveau nicht erreicht hat. Wenn das kommt, werden die Geburtenraten rasch sinken.

tagesschau.de: Verhütungsmittel sind also gar nicht das Wichtigste?

Birg: Wir bräuchten überhaupt keine Verhütungsmittel zu verteilen, wenn die Entwicklung in Afrika in Gang gebracht würde. Aufklärungsarbeit ist das Allerwichtigste. Wenn die Menschen anfangen zu denken, bleibt kein Stein mehr auf dem anderen.

Das Interview führte Florian Pretz für tagesschau.de.