Fragen und Antworten Warum gilt der Jemen als Rückzugsraum für Al Kaida?
Lange sorgte der Jemen vor allem mit Entführungen für Negativ-Schlagzeilen. Nun wird das Land immer häufiger im Zusammenhang mit Al Kaida genannt. Das Land gilt als instabil und als idealer Rückzugsraum für Terroristen. Aber warum eigentlich? tagesschau.de hat Fragen und Antworten zusammengestellt.
Seit wann gibt es den Staat Jemen in seiner heutigen Form?
Die Islamische Republik Jemen wurde erst 1990 durch den Zusammenschluss der bislang eigenständigen - und höchst unterschiedlichen - Staaten Nord- und Süd-Jemen geschaffen. Beide Staaten waren nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg unter britischer Kontrolle entstanden. Der Norden wurde zunächst ein unabhängiges Königreich. Nach einem Militärputsch wurde dort eine Republik ausgerufen. Daraufhin brach ein Bürgerkrieg zwischen Republikanern und Royalisten aus, 1974 ergriff das Militär die Macht. Im Süden des Landes versuchte Großbritannien eine autonome Südarabische Föderation zu bilden. Nach dem Abzug der Briten erklärte diese 1967 ihre Unabhängigkeit. Nach 1970 schlug der Südjemen einen sozialistischen Kurs ein und nannte sich Demokratische Volksrepublik Jemen.
Die Grenze zu Saudi-Arabien wurde erst im Jahr 2000 endgültig festgelegt, ist bis heute aber in den meisten Karten noch immer nicht eindeutig verzeichnet. Mit einer Fläche von gut 500.000 Quadratkilometern (sie ist bis heute nicht zweifelsfrei vermessen) ist der Jemen in etwa so groß wie Frankreich. Das Land hat nach Schätzungen 23 Millionen Einwohner.
Wie ist die wirtschaftliche und soziale Lage?
Trotz seiner Ölvorkommen gehört der Jemen zu den ärmsten Ländern der Welt. 75 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus der Ölindustrie. Doch die Ölförderquote von derzeit 280.000 Barrel am Tag ist eher bescheiden (zum Vergleich: Russland fördert fast 10 Millionen Barrel am Tag) und die Ressourcen schwinden zusehends. Mehr als 60 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten in der Landwirtschaft. Die klimatischen Bedingungen dafür sind aber schwierig, weite Teile des Landes leiden unter extremer Wasserknappheit. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, etwa die Hälfte der Menschen lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Warum gilt der Jemen als politisch instabil?
Die Herrscher von mehreren hundert Stämmen erkennen die Zentralregierung nicht an. Die Macht der Regierung beschränkt sich nach Einschätzung von Experten de facto nur auf die Region um die Hauptstadt Sanaa. "Es ist fraglich, ob wir den Jemen in zehn Jahren noch in der Form sehen werden, wie er heute existiert", so Guido Steinberg, Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, im ARD-Interview.
Im Norden des Landes herrscht seit Jahren Bürgerkrieg. Im August vergangenen Jahres startete die Regierung eine Offensive gegen die dort lebenden Huthi-Rebellen. Spätestens im November griff der Konflikt auf Saudi-Arabien über, als die Rebellen dort Gebiete unter ihre Kontrolle brachten und zwei Grenzsoldaten töteten. Die Huthis gehören der zaiditischen Richtung des schiitischen Islam an. Sie beklagen politische und wirtschaftliche Diskriminierung und werfen der Zentralregierung vor, die Anhänger der anderen Hauptrichtung des Islam, die Sunniten, zu bevorzugen.
Im Süden des Jemen gibt es separatistische Tendenzen. Viele Bewohner dort fühlen sich seit der Vereinigung des Jemen 1990 benachteiligt. Der alte Nordjemen dominiere das Land und beute die im Süden gelegenen Rohstoffvorräte aus, so ihr Vorwurf. Tatsächlich war der derzeitige Staatspräsident Ali Abdallah Saleh vor 1990 auch Staatspräsident des Nordjemen. Er ist damit seit 1978 ununterbrochen an der Macht.
Welche Rolle spielt Al Kaida im Jemen?
Gesicherte Aussagen hierzu sind schwierig. Unstrittig ist aber, dass Al Kaida neben dem Bürgerkrieg im Norden und dem Separatismus im Süden der dritte große Instabilitätsfaktor im Jemen ist - und dass Al Kaida diese Instabilität und die Armut im Land gezielt ausnutzt.
Der Al-Kaida-Zweig im Jemen - der sich selbst seit etwa einem Jahr "Al Kaida auf der arabischen Halbinsel" nennt - wird geführt von Naser Karim Al Wahischi, der früher ein enger Vertrauter von Osama bin Laden gewesen sein soll. Die Gruppe wird für mehrere Anschläge des vergangenen Jahres verantwortlich gemacht, unter anderem auf die US-Botschaft in Sanaa und auf südkoreanische Touristen im Jemen. Sie bekannte sich auch zu dem Attentatsversuch auf ein US-Flugzeug an Weihnachten in Detroit. Eines der Kernziele von "Al Kaida auf der arabischen Halbinsel" ist allerdings der Sturz des saudi-arabischen Königshauses. Nach Einschätzung von Experten dürften sich ihre Aktivitäten daher auch künftig in erste Linie gegen den Jemen und eben Saudi-Arabien richten.
Sind islamische Extremisten erst seit kurzem im Jemen aktiv?
Islamische Extremisten im Jemen werden auch für eine Reihe von Attentaten früherer Jahre verantwortlich gemacht. So wird etwa der Anschlag auf den US-Zerstörer "USS Cole" im Oktober 2000 vor Aden Al Kaida zugeschrieben. Deutlich erstarkt sind die Extremisten im Jemen im Jahr 2006. Damals entkamen 23 Al-Kaida-Kämpfer aus einem jemenitischen Gefängnis - darunter auch der heutige Anführer des jemenitischen Zweigs, Naser Karim Al Wahischi.
Steckt Al Kaida auch hinter den Entführungen im Jemen?
In der Vergangenheit hat der Jemen vor allem mit Entführungen von Ausländern Schlagzeilen gemacht - zuletzt vor etwa einem halben Jahr: Mitte Juni war eine fünfköpfige Familie aus Sachsen gemeinsam mit einem britischen Ingenieur, zwei jungen deutschen Pflegehelferinnen und einer südkoreanischen Lehrerin im Norden des Landes verschleppt worden. Die beiden Helferinnen und die Südkoreanerin wurden wenige Tage darauf tot gefunden. Von den Sachsen fehlt jede Spur. Die jemenitische Regierung macht Al Kaida für die Entführung verantwortlich: Das Terrornetzwerk habe eine Gruppe Ausländer mit der Unterstützung von schiitischen Rebellen verschleppt. Gesicherte und unabhängige Erkenntnisse darüber, wer hinter der Entführung steckt, gibt es allerdings nicht.
In anderen Entführungsfällen gab es hingegen keinerlei Hinweise auf Al Kaida. Sie wurden lokalen Stämmen zugeschrieben, die Lösegeld oder die Freilassung inhaftierter Stammesmitglieder erpressen wollten. Bei der Entführung des deutschen Diplomaten Jürgen Chrobog und seiner Familie 2005 soll eine Stammesfehde Hintergrund gewesen sein. Chrobog vermittelt im derzeit aktuellen Entführungsfall.
Zusammengestellt von Holger Schwesinger, tagesschau.de