Interview

Interview mit dem ARD-Rechtsexperten Bräutigam "Das Kruzifix-Urteil ist eine spektakuläre Kehrtwende"

Stand: 22.10.2015 13:49 Uhr

Kruzifixe in Klassenzimmern verletzen keine Grundrechte, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. Für den ARD-Rechtsexperten Bräutigam ist das eine "durchaus spektakuläre Kehrtwende". Im Interview mit tagesschau.de erläutert er das Urteil und dessen Folgen für deutsche Klassenzimmer.

tagesschau.de: Wie hat das Gericht seine Entscheidung begründet?

Frank Bräutigam: Das Gericht hat heute geprüft, ob Italien gegen die Religionsfreiheit und vor allem die Pflicht verstoßen hat, die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern zu achten. Die Klägerin hatte ja vorgebracht, in einer staatlichen Schule und bei Schulpflicht könnten ihre Kinder dem Kreuz nicht entrinnen. Das Gericht in Straßburg sagt nun, es respektiere grundsätzlich die Entscheidungen des einzelnen Staates, welche Rolle dieser der Religion und ihren Symbolen einräume. Unter einer Bedingung: es dürfe nicht zu einer "Indoktrinierung" kommen.

Einen so starken Einfluss hat man dem Kreuz aber nicht zugemessen. Die Kreuze im Klassenzimmer seien als Symbol der Mehrheitsreligion zwar dominant sichtbar. Von einer "staatlichen Indoktrinierung" könne man aber auch angesichts der Bedeutung der Religion in der Geschichte Italiens nicht reden. Das Kreuz sei ein "passives Symbol", das man in seiner Wirkung nicht mit Unterricht oder der Teilnahme religiösen Aktivitäten vergleichen könne. Außerdem gebe es in der betroffenen Schule keinen verpflichtenden Religionsunterricht, alle Religionen würden toleriert.

tagesschau.de: Ist die Entscheidung endgültig oder kann sie nochmal angefochten werden?

Bräutigam: Heute hat bereits eine "zweite Instanz" entschieden, die sogenannte Große Kammer des Gerichtshofs. Das Urteil ist daher endgültig.

tagesschau.de: Die erste Instanz hatte ja das Aufhängen der Kreuze als Verstoß gegen die Menschenrechte gewertet, heute ist nun eine komplett andere Entscheidung gefallen. Wie beurteilen Sie das?

Bräutigam: Das ist durchaus eine spektakuläre Kehrtwende im Vergleich zur ersten Instanz. Die kleine Kammer des Gerichts hatte recht streng und mit deutlichen Worten die staatliche Neutralität betont und vor allem das Recht der Bürger auf "negative Religionsfreiheit" gegenüber dem Staat hervorgehoben, wonach man keine religiösen Symbole aufgedrängt bekommen dürfe. Das hat in dieser Grundsätzlichkeit Kritik hervorgerufen. Das Gericht schere unterschiedlichste Traditionen über einen Kamm. Nur zwei Beispiele: Frankreich ist streng laizistisch, England hat eine Staatskirche. Nun stellt das Gericht ausdrücklich fest, dass es in der Frage der Präsenz religiöser Symbole in den Mitgliedsstaaten keine Übereinstimmung gebe und argumentiert mit der Geschichte Italiens. Dies kommt den Forderungen vieler Kritiker sehr nahe.

tagesschau.de: In Deutschland gab es doch auch einen umstrittenen Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Ist das Urteil aus Karlsruhe vergleichbar mit dem heutigen Spruch aus Straßburg?

Bräutigam: Es gibt klare Unterschiede. Der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1995 hatte zu großen Protesten und sogar Demonstrationen geführt. Mit einer ähnlichen Begründung wie die erste Instanz in Straßburg hatten die Richter die in Bayern geltende Pflicht für unzulässig erklärt, in Klassenräumen staatlicher Volksschulen ein Kreuz aufzuhängen. Es ging dabei weniger um das Kreuz an sich, als um die staatliche Anordnung in einer staatlichen Schule. Im Vergleich zu Straßburg betont Karlsruhe stärker die staatliche Neutralität. Spannend ist auch die unterschiedliche Einschätzung der Wirkung des Kreuzes auf die Schülerinnen und Schüler. Straßburg sieht das Kreuz lediglich als "passives Symbol", Karlsruhe spricht von einem "appellativen Charakter" gegenüber jungen Menschen, die in ihrem Weltbild noch nicht gefestigt seien.

tagesschau.de: Wie sieht denn die Praxis in deutschen Klassenzimmern aus?

Bräutigam: Karlsruhe hatte auch betont, dass der Staat nicht völlig auf religiöse Bezüge verzichten müsse. Wichtig sei ein "schonender Ausgleich" der verschiedenen Interessen. Das hat Raum für Kompromisse gelassen. Das Land Bayern hat nach dem Karlsruher Urteil die Pflicht zum Aufhängen von Kreuzen beibehalten, aber eine Widerspruchsmöglichkeit für Eltern eingeführt, wenn sie "ernste und einsehbare Gründe der Religion oder Weltanschauung" vorbringen. Man spricht auch von einer "Konfliktlösung", die dann im Einzelfall zum Abhängen des Kreuzes führen kann.

Die deutschen Gerichte haben diesen gesetzlichen Weg akzeptiert, soweit keine überzogenen Ansprüche für die Widersprüche gefordert werden. Ich kenne nicht alle Regelungen der Bundesländer. Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zum Beispiel haben kein Gesetz. Wenn ein Kreuz im Klassenzimmer wäre und es konkrete Beschwerden gebe, würde nach Lösungen im Einzelfall gesucht, wurde uns gesagt.

tagesschau.de: Was heißt nun das heutige Straßburger Urteil für diese deutsche Praxis?

Bräutigam: Es dürfte sich an der gerade beschriebenen Praxis kaum etwas ändern, dass Schulen ein Kreuz aufhängen und Eltern im Einzelfall widersprechen könnten. Straßburg erlaubt seit heute ja unter den beschriebenen Bedingungen sogar eine Pflicht zum Anbringen von Kreuzen in Klassenzimmern. Für Deutschland bleibt aber das Karlsruher Urteil maßgeblich. Das Grundgesetz hat grundsätzlich Vorrang vor der Europäischen Menschrechtskonvention, auch wenn deren Maßstäbe von den deutschen Gerichten zumindest berücksichtigt werden müssen.

tagesschau.de: Hat das Urteil denn mittelfristig Auswirkungen für ganz Europa?

Bräutigam: Es stärkt Staaten, die traditionell religiös geprägt sind, und ermöglicht ihnen das Anbringen religiöser Symbole in Klassenräumen, solange nicht "indoktriniert" oder missioniert wird und die staatliche Schule sich auch ansonsten religiös neutral verhält. Entscheidend ist aber, dass das Gericht den Beurteilungsspielraum der einzelnen Staaten so deutlich betont. Damit nimmt es einer fundamentalen Kritik am Straßburger Gerichtshof den Wind aus den Segeln, dass es nationale Identitäten zu wenig beachte.

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