Phänomen Overtourism "Reiseverhalten muss sich ändern"
Amsterdam, Barcelona, Tirol, Venedig: Immer mehr Städte und Regionen wehren sich gegen zu viele Touristen. Der Tourismus-Forscher Schmude meint im Interview, das Problem werde weiter zunehmen. Daher seien neue Konzepte nötig.
tagesschau.de: Wieso kommt es in den letzten Jahren vermehrt zum Problem des sogenannten Overtourism - also dem Phänomen, dass bestimmte Reiseziele völlig überlaufen sind?
Jürgen Schmude: Das Phänomen selber ist erst vier bis fünf Jahre alt. Es ist entstanden durch sehr stark angestiegene Touristenzahlen, die sich zunächst insbesondere auf Städte konzentriert haben: Barcelona, Venedig, Dubrovnik - das sind die typischen Beispiele, wo die Zahl der Touristen enorm zugenommen hat.
Jürgen Schmude ist Professor für Tourismuswirtschaft, Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er forscht seit Jahren zu touristischem Reiseverhalten, den wechselseitigen Beziehungen von Klimawandel und Tourismus und nachhaltigem Reisen.
"Game of Thrones" lockt Touristen an
tagesschau.de: Wodurch kommt dieses Anschwellen zustande? Venedig war doch auch vor 50 Jahren schon ein Touristenziel.
Schmude: Das liegt daran, dass bestimmte Marktsegmente des Tourismus stark zugenommen haben. Für Venedig ist das der Kreuzfahrttourismus, sodass die Zahl der Schiffe, die Venedig angelaufen haben, exorbitant gestiegen ist. Und das bringt mit jeder Schiffsladung zwischen 1000 und 3000 zusätzliche Touristen.
Man muss allerdings den Einzelfall betrachten. Dubrovnik hat auch Kreuzfahrttourismus, aber dort spielt zum Beispiel der Filmtourismus eine viel größere Rolle. "Game of Thrones" ist dort zumindest in Teilen gedreht worden und bringt rund eine Million zusätzliche Übernachtungen im Jahr.
Es gibt immer ganz unterschiedliche Konstellationen, wobei man auch sagen muss: Es handelt sich um bestimmte Zeiten und bestimmte Plätze, wo dieses Phänomen Overtourism auftritt - beispielsweise nicht flächendeckend in der ganzen Stadt Barcelona.
Es war diesen Sommer auch im Alpenraum zu beobachten: zum Beispiel in Tirol bei der Sperrung der Landstraßen. Da haben wir eine zunehmende Verdrossenheit der Bevölkerung, die eben nicht unmittelbar vom Tourismus partizipiert. Diese Verdrossenheit gegenüber den Touristen hat deutlich zugenommen.
Starke Zunahme der Touristenströme
tagesschau.de: Spielt das Aufkommen von sogenannten Billigfliegern auch eine Rolle?
Schmude: Ja, natürlich: Shopping-Flug am Wochenende in die Einkaufsmetropole oder ein Junggesellenabschied - da leidet insbesondere Barcelona drunter. Das spielt schon eine Rolle. Aber der große Treiber sind die internationalen Touristenströme, die stark gestiegen sind und die in den nächsten zehn bis 15 Jahren noch mal um 50 Prozent ansteigen werden, wenn die Prognose der Welttourismusorganisation tatsächlich eintrifft.
Wenn wir uns vorstellen, dass in China bislang zehn Prozent der Bevölkerung im Besitz eines Reisepasses ist, dann kann man sich vorstellen, wie groß Touristenströme sein werden, wenn ein größerer Teil der chinesischen Bevölkerung auch internationale Reisen tätigt.
tagesschau.de: Und wie müssen wir uns das vorstellen? Wie geht es dann weiter?
Schmude: Der Druck auf die Destinationen wird weiter zunehmen - und das betrifft dann nicht nur Städte, sondern beispielsweise auch den Alpenraum. Da müssen neue Konzepte entwickeln werden, wie Touristenströme einigermaßen gelenkt werden können. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten, die zeitlich und räumlich zu entzerren. Aber da die Situationen unterschiedlich sind, gibt es da kein Patentrezept, das sich auf alle Destinationen übertragen lässt.
Alternative Standorte attraktiver machen
tagesschau.de: Könnten Sie dennoch einzelne Maßnahmen skizzieren, um dem entgegenzuwirken? Es gibt ja keine Stadttore, an denen man Touristen abweisen kann.
Schmude: In Venedig hat man zumindest an einigen Stellen Drehkreuze gebaut, in Dubrovnik ginge das wohl auch, aber das ist eher die Ausnahme. In Amsterdam und Berlin versucht man insbesondere für Wiederholungsbesucher die sogenannten 1b-Standorte attraktiver zu machen. Dahinter steckt der Gedanke: wer schon einmal in Berlin war, muss vielleicht nicht noch mal zum Brandenburger Tor oder zum Reichstag. Deswegen wird versucht, die Besucher auf andere Standorte umzulenken. Amsterdam macht das, indem sie verstärkt "Amsterdam Beach" bewerben, was eigentlich Zandvoort ist. Das klappt relativ gut.
tagesschau.de: Und was müsste sich generell ändern?
Schmude: Eigentlich ist es eine pädagogische Aufgabe, das Reiseverhalten schon in relativ jungen Jahren zu ändern. Dafür müsste man in den Schulen vermitteln, dass sich nicht alle wie die Lemminge verhalten - und alle zur gleichen Zeit an dieselben Orte fahren. Das geht auch anders.
Schulferien sind sicherlich am wenigsten änderbar. Aber Studierende zum Beispiel, die müssen nicht auch noch im August fahren, die haben bis Mitte Oktober Semesterferien. Es müssen sowohl von den Destinationen als auch von der Nachfrageseite her Konzepte greifen, die dafür sorgen, dass viele verschiedene Gruppen auch unterschiedlich behandelt werden - und sich nicht alle zur selben Zeit auf einem Fleck konzentrieren.
Das Interview führte Andrej Reisin, NDR