Protest gegen Repressionen 250 russische Anwälte treten in den Streik
Drohungen, Verhaftungen - sogar Mord: Nach den Menschenrechtlern geraten vermehrt auch Rechtsanwälte ins Visier des russischen Staates. Aus Protest treten nun zahlreiche Anwälte in den Streik.
Die Verhaftung der Anwälte von Kremlkritiker Alexej Nawalny war letztlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Über 250 russische Rechtsanwälte wollen von heute an bis zum kommenden Samstag ihre Arbeit niederlegen.
Es ist mehr als ein Solidaritätsstreik für die drei inhaftierten Kollegen, denen die russischen Behörden Extremismus vorwerfen. Die Fälle der inhaftierten Kollegen seien aber exemplarisch dafür, dass eine unabhängige Anwaltstätigkeit in Russland heute nahezu unmöglich ist, meint Kaloy Achilgow in der Online-Sendung "Schiwoj Gwosd".
"In der Petition fordern wir, objektive Ermittlungen zu allen Fällen zu organisieren und Fakten zusammenzutragen zu den Bedrohungen, Hindernissen und Einschüchterungen der Anwälte", sagte Achilgow. Die strafrechtliche Verfolgung der Anwälte müsse gestoppt werden.
Hausdurchsuchungen, Gewalttaten und Mord
Der Anwalt Achilgow gehört zu den Unterzeichnern einer Petition, in der die sofortige Freilassung von Nawalnys Anwälten gefordert wird. Darüber hinaus werden auch die Schikanen angeprangert, denen Anwälte in Russland ausgesetzt sind: Einschüchterungsversuche, Hausdurchsuchungen, Missachtung von Anträgen, fingierte Anklagen bis hin zu Gewalttaten und Mord.
Doch die föderale russische Rechtsanwaltskammer geht auf Distanz zu den Unterzeichnern der Petition und zu denjenigen, die sich am Streik beteiligen: Zwar seien Fälle bekannt, in denen Anwälte an ihrer Arbeit behindert würden. Aber damit müsse man verantwortungsvoll und professionell umgehen und dürfe nicht mit demagogischem Lärm darauf antworten, heißt es in einer offiziellen Mitteilung. Zur Inhaftierung von Nawalnys Anwälten wolle man keine Stellungnahme abgeben - man wisse zu wenig über den Inhalt der Anschuldigungen.
"Die Anwälte setzen sich nicht füreinander ein"
Für Achilgow ist es nicht überraschend, dass die Petition und der dreitägige Streik nicht auf positiven Widerhall stoßen, auch wenn er es nicht wirklich versteht. "Natürlich war die Föderale Rechtsanwaltskammer dagegen", sagte Achilgow. Aber er sei der Meinung, dass der Streik an sich nichts Schlimmes ist. Dies sei ein übliches Verfahren, auch in hoch entwickelten Staaten. "Und Streiks zeigen doch eine Wirkung", so der Anwalt.
Wenn sich viele Kollegen an einem langen Streik beteiligen würden, könnte man die russische Gerichtsbarkeit eine Zeit lang lahmlegen: Keine Inhaftierungen, keine Verlängerung von Haftstrafen, keine Prozesse. Etwas enttäuscht konstatiert Achilgow: "Ich denke, dass es leider ein großes Problem gibt. Unsere Berufsgruppe hält überhaupt nicht zusammen. Die Anwälte setzen sich nicht füreinander ein."
Trotzdem haben sich rund 200 Menschen dazu entschieden, die Petition zu unterschreiben.
Erst die Menschenrechtler, jetzt die Anwälte
Der russische Top-Anwalt Ilja Nowikow, dem in seiner Heimat die Lizenz entzogen wurde und der nun in Kiew lebt, sieht vor allem die Anwälte von politischen Gefangenen wie Nawalny in Gefahr - nach den Menschenrechtlern seien nun sie ins Visier russischer Behörden geraten.
Gegenüber dem unabhängigen russischen Internet-Portal "Mediazona" sagte Nowikow: "Die Anwälte wissen, dass man damit ohnehin nicht reich werden und bestenfalls als moralischer Gewinner da stehen kann. Du gehst zwar unter, aber mit gehisster Flagge."
Diese Metapher hätte man schon öfter benutzt, meint Nowikow - etwa als es um die Liquidierung der Menschenrechtsorganisation "Memorial" ging. Jetzt sei nach den Menschenrechtlern die Gemeinschaft der Rechtsanwälte an der Reihe.
Auch deswegen würden viele Anwälte nun in Deckung gehen und lieber den Mund halten, so Nowikow weiter. Schon bei der Haltung zum Krieg in der Ukraine habe sich gezeigt, was passiert, wenn Anwälte nicht der Kreml-Linie folgen: "Denn die Leute, die von Anfang an sagten, dass mit dem Krieg etwas nicht stimmt - und das auch weiter sagen - die sind entweder in U-Haft, ausgewandert oder keine Anwälte mehr."