Ende des Konflikts nicht in Sicht Der vergessene Krieg in der Ukraine
Der Krieg in der Ostukraine ist aus dem Fokus vieler Medien verschwunden. Dabei schwelt der Konflikt weiter, eine Lösung ist nicht in Sicht. Im Juli starben so viele Soldaten und Zivilisten wie seit einem Jahr nicht.
Der Zug von Kiew nach Kostyantyniwka fährt bis an die Front. Er ist - wie immer - voller Männer in Uniform. Ein Offizier, der in den Osten zurückkehrt, erzählt, er erwarte einen "heißen August". So viele ukrainische Soldaten und Zivilisten wie seit fast einem Jahr nicht wurden im Juli getötet. Die Regionen in und um Awdijiwka, Marjinka und Mariupol kommen nicht zur Ruhe. "Kleinere Infanterieangriffe, Grad-Raketen, 152-Millimeter-Geschosse. Natürlich erwidern wir das Feuer. Unter unseren Kriegsgefangenen sind jetzt übrigens vermehrt Russen", sagt ein Soldat.
In diesem Sommer führte die Ukraine die bislang größten Militärübungen durch, verteilt auf das ganze Territorium. Das Szenario der Drills mit den Namen "Sommersturm" und "Südwind": Verteidigung im Falle eines russischen Angriffs aus dem Norden, Süden und Osten. Im Schwarzen Meer und in der Westukraine übte das Land mit der NATO und US-Ausbildern. Nach einer Schätzung der International Crisis Group hat die Ukraine 69.000 Soldaten. Auf der Seite der Separatisten stehen vermutlich 35.000 Mann sowie 8000 unter russischer Führung, zusätzlich noch russische Eingreiftruppen nahe der Grenze, auf russischem Gebiet.
Viele Soldaten glauben nicht an militärische Lösung
Eine militärische Lösung für diesen Krieg gebe es nicht, sagen viele Soldaten. "Krieg bedeutet, zu gewinnen oder zu verlieren. Was jetzt hier passiert, wissen wir nicht." Beide Seiten profitierten von der Ungewissheit des schwelenden Krieges: "Russland kann so den Druck auf uns aufrechterhalten. Und unser Präsident hat einen Vorwand, um die Reformen nicht voranzubringen", sagt einer.
Was tun? Viele Offiziere vertreten die Ansicht, dass die Ukraine das besetzte Gebiet im Osten - eine Fläche so groß wie Schleswig-Holstein - abriegeln und ummauern sollte. Statt zu kämpfen, solle sie sich um sich selbst kümmern. So lange, bis der im Rest des Landes erreichte Lebensstandard für die Einwohner der umkämpften Enklave so attraktiv würde, dass sie von alleine wieder zurück wollten. Doch eine Abriegelung wollen nur sieben Prozent der Bevölkerung. Die meisten Ukrainer, 73 Prozent, wollen nach wie vor, dass der Donbass Teil der Ukraine bleibt.
Die Opferzahlen für Juni seien die höchsten seit August 2015 und fast doppelt so hoch wie die Zahlen im Mai 2016. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Seid Ra'ad al-Hussein, forderte die Konfliktparteien auf, Zivilisten zu schonen und die angespannte Lage nicht weiter eskalieren zu lassen.
Seit Beginn der Kämpfe im April 2014 zählten die UN rund 31.700 Opfer unter Zivilisten, Freischärlern und regulären Truppen. Mehr als 9550 von ihnen kamen ums Leben, mehr als 22.100 trugen Verletzungen davon. Die Dunkelziffer könnte laut den UN wesentlich höher liegen.
Einheiten beider Seiten in Wohngebieten
Die OSZE berichtet, dass immer mehr Waffen wieder direkt an der Front eingesetzt würden. An der 500 Kilometer langen Linie sind die Seiten sehr dicht beieinander. Oftmals nur 100 Meter oder etwas mehr, so dass selbst leichter Infanteriebeschuss substanziellen Schaden verursacht. Nach wie vor haben beide Kriegsparteien ihre Einheiten oft in Wohngebieten stationiert. Internationale Beobachter gehen von rund 100.000 Einwohnern aus, die dicht entlang der Frontlinie leben. Oftmals sind es ältere Frauen und Rentner, die keine Mittel für ein neues Zuhause haben, oder auf ihr Anwesen aufpassen wollen. In vielen aufgegebenen Häusern sitzen nun Soldaten.
Wie soll der Konflikt gelöst werden? Weder Russland noch die USA sind offenbar willens, durch Druck und Sanktionsandrohung ihre jeweilige Seite zu einem Waffenabzug und damit zurück zum Minsker Prozess zu bewegen.
Keine Hilfen für lokale Bevölkerung
Wie stellen sich die Ukrainer Schritte zu einer Lösung vor? Nach einer Umfrage der "Ilko Kucheriv-Stiftung für Demokratische Initiativen" geben 41 Prozent der Ukrainer an, dass Russland durch Sanktionen und andere Druckmittel gezwungen werden sollte, jegliche Intervention im Donbass einzustellen. 28 Prozent halten die Wiedereinführung normaler Lebensverhältnisse in den ukrainisch kontrollierten Gebieten im Donbass für einen Weg zum Frieden.
Die lokale Bevölkerung fühlt sich nicht nur von den örtlichen Behörden und von der Regierung in Kiew vernachlässigt, sie ist es objektiv auch. Es gibt für sie keine staatlich organisierte psychologische Betreuung, keine praktischen Lebenshilfen, seit über zwei Jahren ist sie sogar von den ukrainischen Medien abgeschnitten.
20 Prozent der Ukrainer fordern eine Einstellung aller finanziellen Überweisungen, wie Renten und Gehälter, in die besetzten Gebiete. Nur 15 Prozent glauben an einen Frieden durch eine ukrainische Offensive und Rückeroberung. Die Zahl der Befürworter der militärischen Lösung ist in den vergangenen zwei Jahren deutlich gefallen. 47 Prozent glauben, dass die Staatsführung für den Frieden Kompromisse eingehen sollte. 23 Prozent glauben, dass es Frieden um jeden Preis geben sollte.
Politologe: Ukraine braucht neue geopolitische Allianzen
Relative Ruhe oder Ruhe vor dem Sturm? "Dies ist keine Zeit für die Ukraine, zu entspannen, trotz aller Müdigkeit", sagt der ukrainische Politologe Vladimir Gorbulin. In der Wochenzeitschrift "Dzerkalo Tyzhnia" warnte er, dass die russische Bedrohung sich nicht einfach in Luft auflösen würde. Im Falle einer russischen Großoffensive wären die Überlebenschancen für die Ukraine minimal.
Das Risiko eines großen Krieges steige, wenn Russland seinen Nachbarn nicht mit anderen Mitteln schwächen und den Staat zu Fall bringen könne. Kiew müsse jederzeit damit rechnen, dass die internationale Unterstützung wegfalle, dass die Sanktionen gegen Russland aufgehoben würden. Die Ukrainer müssten daher neue geopolitische Allianzen schaffen, zum Beispiel mit Polen, dem Baltikum, Rumänien oder Skandinavien, so Politologe Gorbulin.