Nahost-Demos Kritik an Israel oder Antisemitismus?
Parolen wie "Kindermörder Israel" seien antisemitisch, sagen die Fachleute Juliane Wetzel und Samuel Salzborn im faktenfinder-Podcast. Solche Motive knüpften an uralte Stereotypen an. Fake News spielen dabei eine zentrale Rolle.
"Kindermörder Israel" - diese Parole ist auf verschiedenen Demonstrationen in Deutschland auf Plakaten zu sehen und als Parole zu hören. "Dieser Vorwurf ist schlicht und ergreifend erst einmal falsch", sagt Samuel Salzborn im faktenfinder-Podcast. "Und zwar deshalb falsch, weil nicht Israel als Staat das Ziel hat, Kinder zu ermorden."
Im Gespräch mit Anja Reschke erläutert der Antisemitismus-Beauftragte des Landes Berlin, es sei leider "keine Frage, dass bei kriegerischen Handlungen Handlungen auch Kinder ums Leben kommen können. Aber dieser Vorwurf suggeriert, als sei es das politische Ziel Israels, Kinder zu ermorden." Es handele sich somit um Antisemitismus - und vor allem eine Lüge.
Salzborn warnt, manipulierte Bilder seien Treiber der Radikalisierung.
Die Wissenschaftlerin Juliane Wetzel erklärt, es sei selbstverständlich möglich, Kritik an der israelischen Politik zu äußern - und das werde auch kontinuierlich getan. "Wenn ich sage, 'Netanyahu ist ein schlimmer Politiker', dann ist es völlig legitim", erklärt die Forscherin. "Wenn ich aber sage, 'Netanyahu ist ein schlimmer Politiker, das ist typisch für Juden', dann habe ich die Grenze genau überschritten."
Das Motiv vom "Kindermörder Israel" geht laut Wetzel auch zurück auf die sogenannte Ritualmord-Legende, nämlich auf die Behauptung, Juden würden Kinder entführen und sie dann umbringen, um deren Blut für Brot zu Pessach zu verarbeiten. Diese Legende habe beispielsweise kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen dazu geführt, dass ein Mob 42 Überlebende der Shoah umgebracht hat. Auch Bilder von israelischen Politikern, die als Kinderfresser und Blutsauger dargestellt wurden, stünden in dieser antisemitischen Tradition.
"Zentraler Teil der Propaganda"
Zu den Recherchen des ARD-faktenfinder über irreführend benutzte Fotos von verletzten oder getöteten Kindern im aktuellen Konflikt zwischen der Hamas und dem israelischen Militär sagt Forscherin Wetzel, Fake News spielten im Zusammenhang mit antisemitischen Zuschreibungen immer eine große Rolle. Besonders wirksam seien dabei Bilder, die Kinder zeigten.
Salzborn ergänzt, natürlich entstehe "eine Empörung, wenn man tote Kinder sieht". Das löse bei allen Menschen eine entsprechende Emotion aus. Der Antisemitismus-Beauftragte des Landes Berlin verweist dabei auf den Bedeutungszuwachs von sozialen Medien: Diese Darstellungen könnten durch einen Klick auf dem Smartphone weiter verbreitet werden. Solche manipulierten Bilder seien deswegen besonders effektiv, weil sie eine scheinbare Klarheit bringen. Sie "simplifizieren und emotionalisieren" - und seien eine "treibende Kraft" bei einer Radikalisierung, die zu Gewaltbereitschaft führen könne.
"Genau das erleben wir bei den Demonstrationen", sagt Salzborn. Diese seien "nicht nur gewaltbereit, sondern gewalttätig und von Anfang an ging es explizit gegen Jüdinnen und Juden". Solche Visualisierungen und gefälschten Bilder seien "ein ganz wesentliches Element" in einem "antisemitischen Propagandakrieg". Auffällig sei zudem, wie ähnlich sich die Parolen auf den Demonstrationen seien - sowohl in Deutschland als auch international.
Salzborn betont zudem, im Antisemitismus stecke immer eine Androhung zur Vernichtung. Dies sehe man an Parolen, aber auch an Verschwörungsmythen: "Da geht es immer um etwas Abstraktes, was nicht verstanden wird. Und dieses Abstrakte wird konkretisiert im Denken des Antisemitismus", es werden "konkrete Verantwortliche herbeiphantasiert", um abstrakte Prozesse greifbar zu machen. Dies sei beispielsweise in der Pandemie zu beobachten: Konkrete Menschen oder einzelne Gruppen würden dann attackiert, weil man meint, mit dieser Verfolgung werde das Problem gelöst. "Und darin liegt die Vernichtungsandrohung, die im Antisemitismus steckt."
Dies zeige sich bei Parolen auf Demonstrationen, Drohungen gegen Juden und auch in Anschlägen wie in Halle. "Man muss vor allen Dingen die Perspektive der Jüdinnen und Juden mit berücksichtigen", fordert der Antisemitismus-Beauftragte, dann werde man zu dem Ergebnis gekommen, dass es eine Doppelbedrohung gebe. Diese bestehe "in einer Verbindung von rechtsextremer und islamistischer Seite".
Reschke und Paweletz präsentieren Podcast
Den faktenfinder-Podcast präsentieren im Wechsel Anja Reschke von Panorama und tagesschau-Moderator Michail Paweletz. In der ersten Ausgabe sprach Anja Reschke mit der Journalistin Mai Thi Nguyen-Kim und dem Historiker Malte Thießen über Impfskepsis in der Geschichte und der Corona-Pandemie.
In der zweiten Ausgabe sprach Michail Paweletz mit der Publizistin Ingrid Brodnig und dem Antisemitismus-Experten Michael Blume über die Macht der Verschwörungsmythen - und wie man reagieren kann, wenn Freunde oder Verwandte plötzlich an solche Legenden glauben.
In der dritten Ausgabe diskutierte Anja Reschke mit der Forscherin Pia Lamberty und dem Journalisten Patrick Gensing über die Frage, was eigentlich genau Fake News kennzeichnen - und was gegen deren Verbreitung getan werden sollte.
In der vierten Ausgabe erörterten Michail Paweletz mit Silke Hansen vom ARD-Wetterkompetenzzentrum und dem Fachjournalisten Toralf Staud fragwürdige Behauptungen zum Klima.
Den faktenfinder-Podcast der tagesschau finden Sie bei tagesschau.de, in der ARD-Audiothek und auf vielen großen Plattformen, die Podcasts anbieten.