Rechtspopulistische Parteien Betrugsvorwürfe - wenn das Ergebnis nicht passt
Vor der Wahl witterten einige AfD-nahe Nutzer auf X Wahlmanipulation. Nun sind diese Vorwürfe weitgehend verstummt. Die Bundeswahlleiterin registrierte keine Auffälligkeiten - Expertinnen erkennen eine Struktur.
"Strukturierte Manipulation", "gravierende Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug zum Nachteil der AfD": Noch bevor die Stimmzettel der Europawahl ausgezählt worden sind, witterten einige AfD-nahe Nutzer in den sozialen Netzwerken bereits einen großen Skandal. Der Vorwurf: Wahlhelfer würden die Ergebnisse so manipulieren, dass der Anteil der AfD am Ende niedriger ausfällt, als er in Wahrheit sei.
Nach den ersten Hochrechnungen, aus denen die AfD als eine der Wahlgewinner hervorging, nahmen die Betrugsvorwürfe ab. Zwar wurde von einigen behauptet, dass die AfD ohne die angebliche Manipulation noch mehr Stimmen erhalten hätte und an den Ergebnissen noch etwas "geschraubt und gedreht" werde, um die Partei möglichst klein zu halten. Einen großen Aufschrei gab es jedoch nicht.
"Durch die Behauptung über angebliche Wahlfälschung kann zum einen versucht werden, von Skandalen im Vorfeld der Wahl abzulenken", sagt Sarah Shiferaw, Trainerin für Erwachsenenbildung im Bereich Desinformation beim Institute for Strategic Dialogue Germany (ISD). "Zum anderen macht man es in weiser Voraussicht, sollten die Ergebnisse nicht so ausfallen, wie man es sich erhofft hat." Wenn die Ergebnisse dann doch passten, verstummten diese Stimmen über Wahlfälschung einfach.
Wahlmanipulation im großen Stil unwahrscheinlich
Auch bei den jüngsten Kommunalwahlen in Thüringen wurde in rechtspopulistischen Kreisen Wahlbetrug gewittert. So wurde gegen den AfD-Landratskandidaten Heiko Philipp Strafanzeige wegen Verleumdung gestellt. Er soll in einer Telegram-Gruppe geschrieben haben, dass linke Kreise sich für Wahlbetrug verabredeten. Nach der Landratswahl im Saale-Orla-Kreis im Februar hatte AfD-Politiker Gunnar Lindemann bei X geschrieben, ob die Wahl demokratisch abgelaufen sei, stehe in den Sternen. Nach Landtagswahlen liegt der Hashtag Wahlbetrug regelmäßig in den Trends.
Kleinere Unregelmäßigkeiten bei Wahlen könne es immer geben, sagt die Politikwissenschaftlerin Gabriele Abels. Eine Wahlmanipulation im großen Stil hält sie in Deutschland dagegen für unwahrscheinlich. Durch die etablierten Sicherheitsmechanismen bei Wahlen sei es "eher schwer" zu manipulieren. So gelte bei der Auszählung das Vier-Augen-Prinzip, es gebe Kontrollzählungen und Dokumentationspflichten der Wahlhelfenden.
Dennoch habe die Berlin-Wahl gezeigt, "was durchaus alles schief gehen kann". Bei der Wahl im September 2021 hatte es neben falschen und fehlenden Stimmzetteln etwa zu wenige Wahlurnen gegeben - teils waren Wahllokale geschlossen gewesen, Wählerinnen und Wähler mussten stundenlang anstehen. Die Wahl musste schließlich wiederholt werden.
Dass Wahlhelfende bei den Europa- und Kommunalwahlen absichtlich AfD-Stimmzettel ungültig gemacht haben könnten, hält Abels für Falschbehauptungen. "Angesichts dessen, dass Wahlhelfende nie alleine mit den Urnen oder Stimmzetteln sind oder sein sollten - weder bei der Abstimmung noch bei der Auszählung - ist das schwer vorstellbar."
Keine Berichte über Manipulationsversuche
Das bestätigte auch Bundeswahlleiterin Ruth Brand. Auf eine Anfrage des ARD-faktenfinders schrieb sie, die Kampagne auf X sei eine Falschinformation. Die Europawahl sei sicher. Es seien keine "Auffälligkeiten hinsichtlich der eingesetzten Wahlvorstände bekannt". Die Wahlhelfenden seien zur unparteiischen Wahrnehmung ihres Ehrenamtes verpflichtet und kontrollierten sich gegenseitig, heißt es in der Antwort weiter. "Ein Abweichen von dem gesetzlich verpflichtenden Regelungen würde daher auffallen."
Briefwahl im Fokus der AfD
Vor allem gegen die Briefwahl wird von rechten und verschwörungsideologischen Kreisen immer wieder Stimmung gemacht. So hatte die AfD vor der Bundestagswahl im Jahr 2021 eine Grafik mit dem Slogan "Steck ihn selber rein!" verbreitet, um die eigenen Wähler zu motivieren, am Wahltag wählen zu gehen und nicht die Briefwahl zu nutzen - wegen der vermeintlichen Anfälligkeit für Wahlmanipulation.
Shiferaw erklärt sich das damit, dass der Vorgang insgesamt für den Wähler weniger transparent sei als bei der Stimmabgabe an der Wahlurne. "Am Tag der Wahl kann man eine Wahlbeobachtung machen. Also wenn man sich als Bürger irgendwie unsicher fühlt, kann man da zugucken", sagt sie. "Bei der Briefwahl stecke ich meinen Brief in den Briefkasten und der ist erst mal weg. Da bin ich dann wahrscheinlich auch nicht bei der Auszählung mit dabei. Ich glaube, deswegen verfangen dann auch solche Geschichten von Wahlfälschung."
Politikwissenschaftlerin Abels sieht die Briefwahl zumindest anfälliger für Betrug, da dabei "weniger gut garantiert werden kann, dass die Person selber den Wahlzettel ausgefüllt hat oder - sofern sie dabei Assistenz braucht - kontrollieren kann, wie er ausgefüllt wird". Auch Briefträger könnten Wahlunterlagen laut Abels unterschlagen und vernichten, etwa in Hochburgen von Parteien.
Hinzu komme die Tatsache, dass die Briefwahlbereitschaft bislang über die Parteien unterschiedlich stark entwickelt sei. So nutzen laut Abels eher Wählerinnen und Wähler der Grünen und Linken die Briefwahl als die der konservativen Parteien. Dadurch sorge die Auszählung der Briefwahlstimmen oft dafür, dass sich die Ergebnisse zu Ungunsten rechter und konservativer Parteien verändern.
Bundeswahlleiterin Brand hält dagegen. Die Briefwahl sei genauso demokratisch legitimiert und genauso sicher wie die Urnenwahl im Wahllokal, schreibt sie. Und: Das Bundesverfassungsgericht habe die Briefwahl in mehreren Entscheidungen für verfassungsgemäß erklärt. Außerdem verhandele, berate und entscheide der Briefwahlvorstand öffentlich. Daher habe jedermann vom Zeitpunkt des Zusammentritts des Briefwahlvorstands - also schon wenn dieser die Wahlbriefe öffnet - das Recht, anwesend zu sein.
Vorwurf eher in rechten oder populistischen Milieus
Doch nicht nur die Briefwahl wird in rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen infrage gestellt, sondern auch die Stimmzählung. Sowohl die AfD als auch der rechtsextreme Verein Ein Prozent riefen bei vergangenen Wahlen dazu auf, sich als Wahlbeobachter zu registrieren, um den Wahlvorgang zu überwachen. "Correctiv"-Recherchen zufolge wurde bei dem Treffen nahe Potsdam zudem darüber diskutiert, wie bei der kommenden Bundestagswahl das Wahlergebnis systematisch angezweifelt werden könnte.
Politikwissenschaftlerin Abels beobachtet den Vorwurf der Wahlmanipulation eher in "rechten beziehungsweise populistischen Milieus". Zudem vermutet sie eine Zunahme der Vorwürfe - was etwa mit der Ausbreitung der sozialen Medien liegen könne, "die sich für diese Vorwürfe bestens eignen". "Und wir dürfen das Interesse autoritärer Staaten - vor allem Russlands und Chinas - an Einmischung in demokratische Prozesse nicht unterschätzen." Dazu gebe es gezielte Desinformationskampagnen dieser Staaten.
Strategie auch im Ausland bekannt
Die AfD fährt damit eine ähnliche Strategie wie viele andere rechtspopulistische Politiker auf der Welt. Einer der Vorreiter ist dabei vermutlich der ehemalige US-Präsident Donald Trump. Dieser hatte vor der Wahl 2016 bereits von massenhaftem Wahlbetrug im Sinne seiner damaligen Konkurrentin Hilary Clinton gesprochen. Nach seinem Sieg zweifelte er dann nur noch die Zahlen der sogenannten Popular Votes an, also der Direktstimmen für die Kandidaten, die in den USA wegen des Wahlsystems mit den Wahlleuten nicht ausschlaggebend sind.
Denn während Trump bei den entscheidenden Stimmen der Wahlmänner vorne lag, wählten insgesamt zwei Millionen Menschen mehr die Demokratin Clinton. Beweise für den angeblichen Wahlbetrug legte er nicht vor, eine von ihm selbst eingesetzte Kommission zur Untersuchung von Wahlbetrug wurde ohne Ergebnisse wieder aufgelöst. Vor der Wahl 2020 wärmte Trump im Vorfeld der Abstimmung die Vorwürfe eines vermeintlichen Wahlbetrugs wieder auf.
Auch der inzwischen abgewählte Präsident Brasiliens, Jair Bolsonaro, wendete die Strategie an. In Brasilien führte das permanente Anzweifeln des Wahlvorgangs dazu, dass seine Anhänger gegen das Ergebnis protestierten. Beweise für seine Behauptung hat Bolsonaro nicht vorgelegt.
"Riesenproblem für Demokratie"
Die Taktik, den Wahlvorgang und die Ergebnisse grundsätzlich infrage zu stellen, hält Shiferaw für sehr gefährlich: "Zum einen kann es dazu führen, dass Menschen ihr Vertrauen in politische Prozesse verlieren und deshalb nicht wählen gehen." Das sei ein Riesenproblem für die Demokratie. "Zum anderen kann so etwas zu einer Radikalisierung bei den Anhängern führen, die dann das Wahlergebnis nicht akzeptieren und wie beim Sturm auf das Kapitol in den USA Gewalt anwenden."
Shiferaw wünscht sich daher, dass es mehr Aufklärung über zum Beispiel den Ablauf einer Wahl gibt - auch mit Blick auf die Rechte von Wählern. Jeder Bürger darf den Wahlvorgang und die Stimmenauszählung beobachten. Zudem kann in Deutschland jeder Wahlberechtigte Einspruch gegen eine Wahl beim Bundestag einlegen. Bei einer Bundestagswahl entscheidet dann der Bundestag über die Einsprüche und ob sie gerechtfertigt sind. Ist ein Wahlberechtigter mit der Entscheidung nicht zufrieden, kann er noch Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegen.