Thüringen Desinformation über ausgesetzte Bahnkontrollen
In den vergangenen Tagen verbreitete sich eine Meldung, der zufolge Bahn-Mitarbeitern in Thüringen die Ticketkontrollen bei Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund freigestellt worden seien. Das ist jedoch irreführend.
"Aus Angst vor Übergriffen werden Mitarbeiter dazu angehalten, Tickets von Fahrgästen mit Migrationshintergrund nicht mehr zu prüfen. Eine Kapitulation mit Ansage", schreibt die AfD beim Kurzmitteilungsdienst X. Andere reichweitenstarke Accounts schreiben in verschiedenen sozialen Netzwerken etwa: "Deutschland KAPITULIERT vor gewalttätigen Migranten!" oder "Wenn das Recht vor renitenten Gruppen kapituliert: Das System Bahn bricht ein".
Dazu werden rechtspopulistische Artikel von Boris Reitschuster oder der "Jungen Freiheit" geteilt. Die "Junge Freiheit" etwa schreibt, dass es den Zugbegleitern der Süd-Thüringen-Bahn künftig freigestellt sei, die Tickets von Ausländern zu kontrollieren. Sie berufen sich mit der Aussage auf einen Artikel der Thüringer Allgemeinen. Dies ist jedoch eine sehr selektive Interpretation des Artikels.
Reißerische Überschrift
Die Überschrift des Artikels der Thüringer Allgemeinen, wie sie in den sozialen Netzwerken verbreitet wurde, lässt zunächst eine ähnliche Schlagrichtung vermuten. So heißt es unter anderem bei X vom Kanal der Zeitung: "Ausländer in der Bahn in Thüringen: In Ausnahmesituationen keine Ticketkontrolle". Die Überschrift des Onlineartikels lautet: "Asylpolitik: Keine Ticketkontrolle in brenzligen Situationen".
Im ersten Satz der Meldung heißt es jedoch direkt: "Die Süd-Thüringen-Bahn hat ihre Zugbegleiter nicht angewiesen, Fahrscheine ausländischer Fahrgäste nicht mehr zu kontrollieren." Das habe eine Sprecherin des Bahnunternehmens klargestellt. Da sich der Artikel hinter einer Bezahlschranke befindet, ist das jedoch nicht mehr für jeden ersichtlich.
Tenor im Artikel ein anderer
In dem Artikel wird deutlich, wieso das Thema überhaupt aufgegriffen wurde: In einem Leserbrief an die Thüringer Allgemeine hatte demnach ein Ehepaar behauptet, dass eine Zugbegleiterin in der Regionalbahn 44 von Arnstadt Süd nach Erfurt nur die Fahrkarten von vermeintlich deutschen Fahrgästen habe sehen wollen.
Gegenüber der Thüringer Allgemeinen wies die Bahnsprecherin diesen Vorwurf zurück. Da der Zug bereits davor von Meiningen nach Arnstadt unterwegs war, gehe die Zugbegleiterin gewöhnlich bereits während dieses Streckenabschnitts mehrmals durch den Zug, um Tickets zu kontrollieren. Deshalb habe sie die Fahrkarten der anderen Gäste vermutlich schon gesehen, bevor das Ehepaar in den Zug eingestiegen sei.
Weiter heißt es, dass das Bahnunternehmen es für vermessen halte, aus einer einmaligen Beobachtung abzuleiten, dass ausländische Fahrgäste auf der Bahnstrecke Erfurt-Suhl-Meiningen grundsätzlich nicht kontrolliert würden.
Verzerrung der ursprünglichen Aussage
Dass diese Meldung dennoch als Grundlage für die eingangs erwähnten Artikel genommen wurde, liegt neben der irreführenden Überschrift an folgendem Zitat der Bahnsprecherin: "Lediglich in schwierigen Situationen können unsere Mitarbeiter zur Deeskalation selbst entscheiden, wie sie vorgehen."
Dieser aus dem Zusammenhang gerissene Satz dient rechtspopulistischen Akteuren dazu, die Situation so aussehen zu lassen, als würde die Süd-Thüringen-Bahn quasi aus Angst vor der Gewaltbereitschaft von Fahrgästen mit sichtbarem Migrationshintergrund ihren Mitarbeitern freistellen, deren Tickets zu kontrollieren. Dabei bezieht sich die Sprecherin nicht einmal explizit auf Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund in ihrem Statement, sondern allgemein auf "schwierige Situationen". Zudem macht sie in den restlichen Sätzen deutlich, dass an dem Vorwurf des Ehepaares nichts dran ist.
Bahnunternehmen weist Vorwurf zurück
Die Süd-Thüringen-Bahn schreibt auf Anfrage des ARD-faktenfinders, dass die Situation im Artikel der Thüringer Allgemeinen aus dem Zusammenhang gerissen und nicht ganz korrekt dargestellt worden sei. "Grundsätzlich betonen wir noch einmal, wie dies übrigens auch in der ersten Stellungnahme sehr eindeutig zu lesen war, dass alle Fahrgäste gleich zu behandeln sind." Eine Anweisung für die Mitarbeiter, die Fahrscheine von Fahrgästen mit sichtbarem Migrationshintergrund nicht mehr zu kontrollieren, gebe es nicht.
Dass Mitarbeiter lediglich in schwierigen Situationen zur Deeskalation selbst entscheiden könnten, wie sie vorgingen, betreffe alle Fahrgäste. Als schwierige Situationen bezeichnet die Süd-Thüringen-Bahn solche, "in denen unser Personal verbal oder auch tätlich bedroht wird".
Dass die Strecke intern als "Bürgerkriegsgebiet" oder ähnliches bezeichnet werden - wie in einigen der eingangs erwähnten Artikel behauptet -, sei völlig überzogen, unsachlich und den Tatsachen nicht entsprechend.
Aggressionen gegen das Zugpersonal
Dass sich dieses Thema für rechte Desinformation anbietet, hat auch mit vergangenen Meldungen über die Süd-Thüringen-Bahn zu tun. Denn auf der Strecke zwischen Suhl und Erfurt kam es in der Vergangenheit laut der Eisenbahngewerkschaft EVG vermehrt zu Angriffen auf das Zugpersonal.
Auch der Betriebsrat der Süd-Thüringen-Bahn hatte sich im April deshalb mit einem Brief an Thüringens Ministerpräsidenten Bodo Ramelow gewandt. Der Betriebsrat prangerte katastrophale Zustände und eine nicht mehr zumutbare Sicherheitslage für Schaffnerinnen und Schaffner an.
Ein Sprecher der EVG teilt auf Anfrage mit: "In ganz Thüringen berichten uns Kolleginnen und Kollegen von Übergriffen und einer wachsenden aggressiven Stimmung gegenüber den Beschäftigten. Diese Entwicklung hat verschiedene Hintergründe und lässt sich nicht auf eine Personengruppe alleine reduzieren. Die Sicherheit der Beschäftigten muss flächendeckend verbessert werden."
Deswegen fordert die EVG dauerhaft mehr Sicherheitspersonal und eine Doppelbesetzung der Züge auf Schwerpunktlinien und Hauptverkehrszeiten. "Die politische Instrumentalisierung durch rechte Kräfte dagegen ist einseitig, irreführend und trägt nichts zur Verbesserung der Situation der Beschäftigten bei."
Mehr Geld von der Landesregierung
Eine Schaffnerin berichtete dem MDR, dass es oftmals die gleichen Personen seien, die negativ auffallen: "Ich kenne auch viele Migranten, die regelmäßig mit uns fahren, die sich immer höflich, nett und anständig verhalten", so die Schaffnerin. Zudem gebe es auch genug andere problematische Fahrgäste, die keinen Migrationshintergrund haben. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen erlebten grundsätzlich eine gestiegene Aggression.
Die Thüringer Landesregierung hatte daraufhin Hilfe versprochen. Unter anderem gibt es mehr Geld für Sicherheitsleute auf der Strecke. Nach Angaben der Süd-Thüringen-Bahn wird seitdem ein großer Teil der Züge auf dieser Strecke durch Sicherheitspersonal begleitet. "Dadurch hat sich die Situation in den vergangenen Monaten sehr deutlich beruhigt. Die Sicherheit wurde erhöht, das Sicherheitsgefühl für Fahrgäste und Personal stabilisiert." Die Maßnahmen seien erfolgreich, müssten aber fortgesetzt werden.