
Nukleare Abschreckung Auf welche Atomwaffen kann Europa sich verlassen?
Der Kurs von Präsident Trump schürt Zweifel an der Verlässlichkeit der USA als Bündnispartner. Was heißt das für das NATO-System der nuklearen Abschreckung? Kann Atommacht Frankreich ganz Europa schützen?
In wenigen Monaten ist es 80 Jahre her, dass die USA Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abwarfen, mit Folgen, die bis heute anhalten. Lange Zeit schien es einen Konsens zu geben: Atomwaffen zur Abschreckung ja - aber eigentlich nur, um zu garantieren, dass sie nie wieder eingesetzt werden.
Doch was passiert, wenn man sich nicht mehr sicher sein kann, dass die Abschreckung funktioniert? Europa glaubte sich von den US-amerikanischen Atomwaffen geschützt. Noch hat US-Präsident Donald Trump den nuklearen Schutzschirm nicht infrage gestellt, aber das Vertrauen in die Verlässlichkeit der USA schwindet, in immer schneller werdendem Tempo.
Welche Länder besitzen Atomwaffen?
Fünf Staaten verfügen offiziell über Atomwaffen: die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China. Weitere vier Länder haben wohl auch atomare Waffen, ohne es je bestätigt zu haben: Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel.
Das Stockholmer SIPRI-Institut geht davon aus, dass es weltweit etwas mehr als 12.000 Atomsprengköpfe gibt. Im Januar 2024 verfügte Russland laut Schätzung von SIPRI über 5.580 atomare Sprengköpfe, gefolgt von den USA mit 5.044. Frankreich hat demnach 290 Sprengköpfe, das Vereinigte Königreich 225.
Welche Art von Atomwaffen gibt es?
Es wird unterschieden zwischen strategischen und taktischen Atomwaffen. Die strategischen Atomwaffen sind für den Einsatz gegen Ziele auf anderen Kontinenten konzipiert. Die Sprengkraft und damit auch die Zerstörungskraft übersteigt die der Hiroshima-Bombe - sie lag bei 15 Kilotonnen - bei Weitem. Sie sollen vor allem der Abschreckung dienen, weil sie auch Ziele erreichen können, die weit vom eigentlichen Kriegsgeschehen entfernt liegen. Strategische Atomwaffen sollen im Ernstfall vor allem mit Interkontinentalraketen in Ziel gebracht werden.
Taktische Atomwaffen haben eine geringere Sprengkraft. Sie wurden für den Einsatz auf dem Gefechtsfeld entwickelt - zum Beispiel gegen größere Truppenverbände. Sie sollen große konventionelle Angriffe verhindern. Moderne taktische Nuklearwaffen haben ebenfalls eine deutlich größere Zerstörungskraft als die über Hiroshima abgeworfene Atombombe.
Welche Atomwaffen garantieren bisher den nuklearen Schutzschirm über Deutschland?
Trotz verschiedenster Abrüstungsverträge nach dem Kalten Krieg sind nach wie vor Atomwaffen in Deutschland stationiert. Schätzungen gehen von 20 taktischen Atomwaffen aus, und zwar auf dem Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz. Offiziell bestätigt ist das nicht. In Büchel stehen auch atomwaffenfähige Kampfflugzeuge des Typs "Tornado" bereit.
Wie würden diese Atomwaffen eingesetzt werden?
Zum Einsatz kämen die Waffen über die sogenannte nukleare Teilhabe. Deutschland besitzt zwar keine Atomwaffen, kann aber die im Land stationierten US-Waffen einsetzen, wenn der amerikanische Präsident und die Bundesregierung zustimmen. Es ist das Prinzip der zwei Schlüssel.
Doch die jüngsten politischen Entwicklungen in den USA haben die Zweifel wachsen lassen, ob der amerikanische Präsident im Ernstfall überhaupt noch zustimmen würde. Die Diskussion über eine europäische Alternative hat seitdem an Fahrt aufgenommen.
Gibt es eine europäische Alternative zum US-Nuklearschirm?
Der französische Präsident Emmanuel Macron bietet seit Längerem an, den Schutz durch französische Atomwaffen auf andere Länder auszudehnen. Angesichts der Beteuerungen, die Sicherheit in Europa unabhängiger von den USA zu gewährleisten, wäre das ein wichtiger symbolischer Schritt. Aber wie würde das konkret aussehen? Wer würde darüber entscheiden, ob französische Atomwaffen eingesetzt werden?
Frankreich hat immer großen Wert darauf gelegt, eine unabhängige Atommacht zu sein. Das Land verfügt lediglich über strategische Atomwaffen und nicht über taktische. Die Waffen selbst, aber auch die Flugzeuge und U-Boote, die sie abschießen könnten, beinhalten keine US-amerikanischen Bestandteile, so dass die USA keinen Einspruch erheben können, falls die Franzosen ihre Waffen einsetzen wollen. Das ist ein Pluspunkt für die Europäer.
Bisher scheint jedoch eine Teilhabe - wie sie zum Beispiel Deutschland mit den USA hat - für Frankreich nicht vorstellbar. Über einen Einsatz der Waffen wollen sie allein entscheiden. Auch über eine mögliche Stationierung von französischen Atomwaffen in anderen Ländern herrscht Unklarheit. Und mancher fragt sich, was der französische Präsident für das Schutzversprechen als Gegenleistung fordern will.
Militärexperte Christian Mölling von der Bertelsmann Stiftung warnt vor einer neuen Abhängigkeit. "Wir haben jetzt einen Präsidenten Macron. Wir haben aber auch eine mögliche Präsidentschaftskandidatin Le Pen, die schon gesagt hat, sie würde Deutschland nicht schützen. Das muss man sich mit auf den Zettel schreiben, dass die Kontinuität der letzten Jahrzehnte tatsächlich nicht nur bei den USA, sondern möglicherweise auch in Europa nicht so gegeben ist, dass man sich darauf verlassen kann."
Mölling sieht ein weiteres Problem darin, dass Frankreich nicht in der Lage sei, nuklear zu eskalieren, von ganz klein zu ganz groß. "Da fehlen viele Schritte, die im amerikanischen Arsenal vorhanden sind."
Ebenso wie Großbritannien. Dort kommt erschwerend hinzu, dass das britische Atomwaffenarsenal abhängig von US-amerikanischen Komponenten ist und so keine wirkliche Unabhängigkeit bietet.
Sollte Deutschland eigene Atomwaffen anschaffen?
Bisher verbietet das der Atomwaffensperrvertrag, der Nichtverbreitungsvertrag von Atomwaffen. Er gilt seit 1970. In Deutschland ist er 1975 in Kraft getreten. Er schreibt unter anderem fest, dass Nichtkernwaffenstaaten auf den Erwerb von Nuklearwaffen verzichten.
Würde Deutschland aus dem Vertrag aussteigen, könnte das eine verheerende Wirkung auf die 191 Unterzeichnerstaaten haben. Abgesehen davon wäre der Gedanke an deutsche Atomwaffen mehr als eine Zerreißprobe für die Bevölkerung. Der Protest gegen Atomwaffen in den 1980er-Jahren haben die Gesellschaft geprägt.
Die Politik hat bisher keine angemessene Antwort auf die Sorge vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine gefunden. Überlegungen, deutsche oder europäische Atomwaffen anzuschaffen, würden die Bevölkerung noch stärker spalten.
Was ist die Alternative?
Es muss über all diese Themen diskutiert werden. Die Politik muss die Gesellschaft mitnehmen. Noch haben sich die USA nicht vom nuklearen Schutzschirm für Europa verabschiedet, aber es ist trotzdem Zeit, unabhängiger zu werden.
Ein Weg: sich zwar nicht komplett von den USA abkoppeln, aber die Risiken der Abhängigkeit minimieren. Das betreffe, so Militärexperte Mölling, vor allem die Rüstungsindustrie. "Wir brauchen eine Vereinbarung mit den Amerikanern, dass wir diese Systeme, zu denen entweder der amerikanische Staat oder aber amerikanische Unternehmen immer eine Hintertür haben, dass wir die allein betreiben und in unsere digitale Infrastruktur integrieren können."
Ein Beispiel sind die atomwaffenfähigen amerikanischen F35-Kampfflugzeuge, die die "Tornado"-Kampfjets in Büchel ersetzen werden. Keines dieser Flugzeuge wird jemals durchstarten können, wenn die US-Regierung die Erlaubnis entzieht, obwohl einzelne Teile in Deutschland produziert werden. "Wenn man dem Partner nicht mehr trauen kann, dann muss man mehr Kontrolle und mehr eigene Steuerungsfähigkeit haben." Mölling sagt, es gebe einige Staaten, die für die F35-Sonderverträge zur Nutzung der Software und anderer technologischer Elemente geschlossen hätten. Das bedeutet, es müsste nachverhandelt werden, um unabhängiger zu werden.
Über welches Arsenal verfügt Russland?
Die aktuelle Debatte um die nukleare Abschreckung hängt auch eng mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zusammen. Seit dem Beginn der Vollinvasion im Februar 2022 wird Russland wieder vor allem als strategischer Gegner definiert.
Russland verfügt über die meisten Sprengköpfe weltweit und hat Atomwaffen fest in seiner Militärdoktrin verankert. Auch deshalb modernisiert das Land sein Arsenal kontinuierlich. Dabei setzt die Armee auch auf mobile Abschussrampen für nuklear-bestückbare Interkontinentalraketen und ähnlich wie die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich auf U-Boote. Sowohl die mobilen Einheiten als auch die U-Boote sollen im Kriegsfall die "Zweitschlagfähigkeit" garantieren. Die Möglichkeit also, selbst nach einem massiven Angriff, ebenso massiv zurückschlagen zu können.
Während des Ukraine-Krieges baute Russland wiederholt eine nukleare Drohkulisse auf, um die westlichen Staaten von Militärhilfe für das angegriffene osteuropäische Land abzuhalten. Dabei spielen auch das verbündete Belarus und die Exklave Kaliningrad eine Rolle. Dort stationierte Atomwaffen könnten fast ohne Vorwarnzeit Ziele in NATO-Mitgliedsstaaten erreichen. Es ist nach Analysen der Denkfabrik SWP aber unklar, ob wirklich russische Atomwaffen in Belarus gelagert werden.