Bundesjustizministerin Barley "... dann ist man Teil eines rechten Mobs"
Justizministerin Barley hat im tagesschau.de-Interview Sachsens Verantwortlichen vorgeworfen, die Demonstrationen in Chemnitz nicht ernst genug genommen zu haben. Rechtsradikale dürften nicht länger als "besorgte Bürger" verharmlost werden.
tagesschau.de: Frau Ministerin, ein Justizbeamter veröffentlicht einen Haftbefehl, obwohl das strafbar ist. Ein Bundespolizist, der in Bremen als Politiker in der Bürgerschaft sitzt, verbreitet diesen Haftbefehl weiter - auch er hat sich wahrscheinlich strafbar gemacht. Ein Mitarbeiter des Landeskriminalamtes attackiert ein ZDF-Fernsehteam bei einer Demonstration, und die Polizeibeamten vor Ort lassen sich von ihm instrumentalisieren. Was ist da eigentlich los in der Justiz, bei der Polizei?
Katharina Barley: Die Vorfälle sind erst einmal Einzelfälle, das muss man sagen. Der weit überwiegende Teil unserer öffentlichen Bediensteten leistet eine hervorragende Arbeit. Man muss auch echt aufpassen, dass man da nicht Pauschalurteile fällt, gerade über die Arbeit in Sachsen. Da gibt es auch hochanständige Polizisten, Justizbedienstete und so weiter. Aber es ist tatsächlich so, dass da etwas ins Rutschen gekommen ist. Das geht eben bis in die Mitte der Gesellschaft. Da sind auch mal Menschen dabei, die im Dienste des Staates stehen. Das ist sehr besorgniserregend. Der Mann, der den Haftbefehl weitergeleitet hat, hat sich ja zu erkennen gegeben. Die entsprechenden Konsequenzen sind gezogen worden, und das muss auch Konsequenzen haben.
tagesschau.de: Polizeibeamte lassen Journalisten im Regen stehen. Wir wissen, dass bei der zweiten Demonstration in Chemnitz die Polizei alles andere als gut vorbereitet war. Wie kann das sein?
Barley: Ob die Polizei gut vorbereitet ist oder nicht, das liegt ja nicht an den einzelnen Beamten, sondern das liegt an der Führung. Ich kenne jetzt natürlich nicht die Vorfälle im Einzelnen. Aber nach allem was mir bekannt ist, war es so, dass der Verfassungsschutz gesagt hat: Da kommt eine größere Welle, also mehrere tausend Rechtsradikale könnten da auflaufen. Und das ist von der Polizeiführung oder der politischen Führung - das kann ich nicht genau sagen, weil ich nicht dabei war - in Sachsen nicht ernst genug genommen worden. Das geht natürlich nicht. Das ist ganz klar. Das war eine Fehleinschätzung. Und die hat auch die entsprechenden Folgen gehabt, das haben wir ja gesehen.
"Wer auf solchen Demos unterwegs ist, muss sich das zurechnen lassen"
tagesschau.de: In Chemnitz haben Rechtsextremisten Jagd auf Ausländer gemacht, sie haben den Hitlergruß gezeigt, und es waren offenbar nicht genügend Polizisten im Einsatz, um das zu unterbinden. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als sie diese Bilder gesehen haben?
Barley: Das sind furchtbare Bilder, die eben nicht aus dem Nichts kommen, sondern die haben sich angekündigt. Das ist eine Entwicklung, die wir da sehen. Die Polizei war nicht gut genug vorbereitet. Was mich besonders bedrückt, ist die Entwicklung innerhalb der Bevölkerung selbst. Wir haben immer schon - und auch nicht nur Deutschland, sondern praktisch in allen Ländern - einen Bestand von Menschen, die anders ticken: die fremdenfeindlich sind, Rassisten sind, die Schwule abwerten, Antisemiten. Die gibt es in jeder Bevölkerung. Wir hatten über Jahrzehnte Studien, dass die sich so zwischen zehn und zwanzig Prozent bewegen.
tagesschau.de: Das darf der Staat sich doch nicht gefallen lassen.
Barley: Nein, das darf er nicht.
tagesschau.de: Wir wissen doch schon längst, dass wir gerade in Sachsen Probleme haben.
Barley: Genau. Deswegen muss gegen die, die radikal sind, auch wirklich hart vorgegangen werden. Der zweite Punkt ist - und das ist mehr der gesellschaftspolitische Teil: Was ist mit denen, die empfänglich sind für solch ein Gedankengut, die aber noch nicht radikal sind? Das ist ein Job, den wir jetzt machen müssen. Und zwar nicht nur die Politik, sondern alle, die ganze Gesellschaft miteinander. Wir müssen klar machen: Wer auf solchen Demos unterwegs ist, der muss sich das zurechnen lassen. Wenn der auf einer Demo unterwegs ist, wo die Leute rechtsradikale Sprüche brüllen, Menschen angreifen und den Hitlergruß zeigen, der kann sich nicht mehr verstecken und sagen: "Ich bin ja nur ein besorgter Bürger". Dann ist man Teil eines rechtsradikalen Mobs.
Mit Familienministerin Franziska Giffey besuchte am Freitag erstmals seit den Demonstrationen ein Mitglied der Bundesregierung Chemnitz.
"Ganz klare Anleihe an dunkelste deutsche Vergangenheit"
tagesschau.de: Sie und andere Mitglieder der Bundesregierung haben die Ausschreitungen in Chemnitz kritisiert. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey ist immerhin dorthin gereist, um Präsenz zu zeigen. Sonst kam eigentlich nicht so viel von der Bundesregierung. Ist das nicht ein bisschen wenig, wenn man bedenkt, dass sich jetzt viele Bürger fragen, ob der Staat überhaupt noch handlungsfähig ist?
Barley: Ich bin der Meinung, dass man gerade auf so etwas jetzt nicht damit reagieren sollte, dass die komplette Bundesregierung da hin fährt. Zu sagen: "Oh, jetzt kümmern wir uns alle, jetzt müssen wir mal ganz genau hinhören", das halte ich für die falsche Reaktion. Diesen Pegida-Demonstranten wird so zugehört wie sonst praktisch keiner Gruppe. Es gibt etliche Formate, die im Moment für diese Leute angeboten werden. Aber es muss auch mal den Leuten zugehört werden, die von denen bedroht werden, die beschimpft oder verfolgt werden. Und die keine Lust mehr haben, das weiter zu ertragen.
tagesschau.de: Die AfD-Fraktion im Hochtaunuskreis hatte kürzlich folgenden Post auf Facebook veröffentlich: "Bei uns bekannten Revolutionen wurden irgendwann die Funkhäuser und Presseverlage gestürmt und die Mitarbeiter auf die Straße gezerrt. Darüber sollten Medienvertreter einmal nachdenken. Denn wenn die Stimmung kippt, ist es endgültig zu spät." Muss ich mir jetzt als Vertreter der sogenannten "Lügenpresse" Sorgen machen?
Barley: Zumindest kann jetzt keiner mehr sagen, dass er nicht wüsste, wohin die AfD will. Das ist eine ganz klare Anleihe auch an dunkelste deutsche Vergangenheit. Das ist ein ganz klarer Weg in Richtung Diktatur. Die freie Presse einzuschränken, das ist ein Kennzeichen von diktatorischen Regimen.
tagesschau.de: Das geht ja schon fast in Richtung eines Aufrufs zur Gewalttat.
Barley: Natürlich. Das ist aber nicht neu. Da sieht man immer wieder. Und deswegen finde ich, müssen wir Klartext reden und dürfen nicht mehr von "besorgten Bürgern" reden. Das sind ganz klar Rechtsradikale, die zu Gewalt aufrufen, die Gewalt ausüben. So müssen wir sie dann auch behandeln, und nicht wie "besorgte Bürger".
Das Interview führte Klaus Hempel, SWR.