Bundestagswahl 2025

Stimmzettelschablone (Archivbild: 29.08.2013)

Barrierefreiheit Was Menschen mit Behinderung für die Wahl brauchen

Stand: 13.02.2025 08:40 Uhr

Der knappe Zeitplan sorgt für Herausforderungen bei der diesjährigen Bundestagswahl - besonders für Menschen mit Behinderung. Ist Deutschland beim Thema Barrierefreiheit zu nachlässig?

Von Louis Seibert, BR

Melanie Bergzoll spricht voller Aufregung. Zu ihrer Veranstaltung sind deutlich mehr Menschen gekommen als erwartet. Anlass ist die Bundestagswahl: Bergzoll erklärt ihrem Publikum die Wahlzettel und den Umgang mit der Schablone. Mit der können blinde Menschen selbstständig ihre Stimme abgeben.

Viele Menschen im Publikum haben ein Seh- oder Lernbehinderung. Der holzverkleidete Speisesaal des Inklusionsvereins SWW in München-Giesing wurde zum Veranstaltungsraum umfunktioniert.

Im Wahlkampf spielt Inklusion kaum eine Rolle

"Mir ist es ein Anliegen, diese Menschen dazu zu bewegen, zur Wahl zu gehen und ihnen politische Teilhabe zu ermöglichen", so Bergzoll. Sie ist selbst seit ihrer Geburt auf einen Rollstuhl angewiesen. Während ihres Studiums musste sie noch von ihren Kommilitonen in den Hörsaal getragen werden, weil es damals keine barrierefreien Zugänge gab.

Inzwischen setzt sie sich mit dem Projekt "Ois inklusiv" ("ois" ist bairisch für "alles"), für mehr Inklusion auf allen Ebenen der Politik ein. Dabei benötigt sie viel Ausdauer: Im Wahlkampf spielt das Thema nur eine untergeordnete Rolle.

Bergzoll sagt, die Politik tue nicht genug für Inklusion. Manche Parteien, etwa die AfD oder auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), bieten zu dieser Wahl kein Wahlprogramm in Leichter Sprache an.

Nur SPD und FDP haben ein barrierefreies PDF

Auch für blinde Menschen sind viele Wahlprogramme im PDF-Format noch immer nicht zugänglich. Das liege an den Formatierungen der Dokumente, sagt Christiane Möller, stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands (DBSV). Von sechs Parteien, deren Wahlprogramme der DBSV untersucht hat, haben nur die SPD und die FDP ein barrierefreies PDF ihres Wahlprogramms erstellt.

Für blinde Menschen sei beispielsweise wichtig, dass in PDF-Dokumenten die Überschriften und Unterüberschriften als solche formatiert sind, schreibt der DBSV auf seiner Webseite. Wie Sehende mit den Augen könne man dann mit einem Screenreader gezielt von einer Überschrift zur nächsten springen. "Ansonsten muss man sich durch dutzende Seiten Wahlprogramm wälzen, ohne den Text in Abschnitte gliedern zu können", so Möller.

Kein einheitliches Layout für die Stimmzettel

Ein weiteres Problem: Noch immer gibt es kein einheitliches Layout für die Stimmzettel der einzelnen Wahlkreise. "Wir fordern bundesweit verbindliche Vorgaben zur Größe des Stimmzettels und der Anordnung der Stimmfelder", sagt Möller.

In diesem Jahr sei besonders deutlich geworden, wie sinnvoll einheitliche Vorgaben für den Stimmzettel wären. Denn wegen des kurzen Vorlaufs mussten die Wahlschablonen schon vor der Festlegung der jeweiligen Stimmzettelinhalte produziert werden.

Die Landeswahlleitungen hätten aber in Absprache mit dem DBSV die Wahlkreise darauf hingewiesen, dass die Stimmzettel nach dem sogenannten Berliner Muster gedruckt werden müssen, so Möller. So ist sichergestellt, dass die Stimmzettel dann auch überall in die Schablonen passen. Über eine zu dem Wahlkreis passende Audio-CD lässt sich dann der Inhalt des Stimmzettels erfassen.

Keine bundesweiten Zahlen über barrierefreie Zugänge

Bereits seit 2002 gibt es für blinde Menschen die Möglichkeit, bei der Bundestagswahl mit Stimmzettelschablonen zu wählen - ein großer Fortschritt für die Inklusion.

Woran es allerdings weiterhin hakt: die Barrierefreiheit der Wahllokale an sich. Einzelne Kommunen, etwa die Landeshauptstadt München, erfassen zwar, welcher Anteil der Wahllokale für welche Nutzergruppen barrierefrei ist und welcher nicht. Bundesweite Zahlen dazu werden allerdings nicht erhoben.

Der Gesetzgeber belässt es bei der Freiwilligkeit. "Die wahlrechtlichen Grundlagen enthalten keine konkrete Vorgabe zur Barrierefreiheit von Wahlräumen. Deshalb gibt es weder besondere staatliche Prüfungen noch Programme oder Förderungen", so das Büro der Bundeswahlleiterin auf eine BR-Anfrage.

Ein Transpanent hängt an einem Wohnheim für blinde und sehgeschädigte Menschen.

In diesem Wohnheim für blinde und sehgeschädigte Menschen in München bietet Melanie Bergzoll einen Workshop zur Bundestagswahl in Leichter Sprache an.

"Für manche Politiker ist Inklusion ein Fremdwort"

Viele Behindertenverbände in Deutschland fordern schon lange verbindliche rechtliche Vorgaben für Barrierefreiheit. Etwa jeder zehnte Mensch in Deutschland gilt als schwerbehindert - Tendenz steigend, denn die Bevölkerung in Deutschland altert. In Zukunft werden aller Voraussicht nach deutlich mehr Menschen als bisher auf barrierefreie Infrastruktur angewiesen sein.

Dabei kommt es bei Barrierefreiheit auf viel mehr an als nur auf rollstuhlgerechte Zugänge. Das wissen nicht zuletzt die Teilnehmer von Melanie Bergzolls Informationsveranstaltung.

Viele von ihnen ergreifen nach dem Vortrag das Wort. "Für manche Politiker ist Inklusion noch ein Fremdwort. Die haben noch nicht verstanden, was das eigentlich wirklich bedeutet", erzählt ein Teilnehmer.

Referentin Bergzoll zeigt sich nach der Veranstaltung zufrieden: "Ich hoffe, ich konnte einen Mehrwert schaffen heute. Dass die Menschen motiviert sind, wählen zu gehen."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 23. Januar 2025 um 15:59 Uhr.