Ein Jahr vor Europawahl Deutsche blicken kritischer auf die EU
Darf es ein bisschen mehr sein? Nein, sagen vier von zehn Deutschen - und wünschen sich, dass die EU-Staaten stärker allein handeln. Ein ARD-DeutschlandTrend extra zeigt: Der Blick der Deutschen auf die EU ist kritischer geworden.
"Wir als Europäer ...": Vor knapp 20 Jahren hat das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap gefragt, wer sich unter dieser Überschrift angesprochen fühlt. Damals war die wahlberechtigte Bevölkerung in Deutschland in zwei gleich große Lager geteilt: Gut jeder Zweite (52 Prozent) fühlte sich weniger stark oder gar nicht angesprochen. Fast jeder Zweite (48 Prozent) tat das dagegen stark oder sogar sehr stark. Das war das Meinungsbild im Juni 2004, also kurz vor der Europawahl.
Wenn heute, ein Jahr vor der nächsten Europawahl, ein Text mit "Wir als Europäer..." anfängt, dann fühlen sich nur noch vier von zehn (41 Prozent) davon stark oder sogar sehr stark angesprochen, eine Mehrheit (56 Prozent) aber weniger stark oder gar nicht. Das zeigt ein ARD-DeutschlandTrend extra anlässlich des WDR-Europaforums, bei dem sich am 6. Juni unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Fragen zur Rolle Europas stellen.
Die repräsentative Befragung unter 1302 Wahlberechtigten zeigt, wie die Deutschen auf Europa blicken. Dieser Blick ist in den vergangenen Jahren skeptischer geworden. Nur noch jeder Vierte (26 Prozent) sagt, Deutschland habe von der Mitgliedschaft in der Europäischen Union eher Vorteile - das sind 14 Prozentpunkte weniger als im Juli 2020. Etwa ebenso viele (27 Prozent) sagen heute, Deutschland habe von der EU-Mitgliedschaft eher Nachteile (+12). Dagegen sagt weiterhin eine relative Mehrheit (41 Prozent), Vor- und Nachteile hielten sich die Waage.
14 Prozent finden: Deutschland sollte die EU verlassen
Auch der Wunsch, dass die Mitgliedsstaaten wieder mehr Zuständigkeiten von der EU zurückholen und stärker allein handeln, ist binnen drei Jahren gewachsen. Eine relative Mehrheit von 38 Prozent möchte das aktuell - das sind 16 Prozentpunkte mehr als im Juli 2020.
Dass die europäischen Länder ihre Zusammenarbeit hingegen vertiefen und weitere Zuständigkeiten an die EU abgeben, wünscht sich nur noch ein Drittel (34 Prozent, ein Minus von 20 Prozentpunkten). Vor knapp drei Jahren war es noch mehr als jeder Zweite. Für jeden Fünften (20 Prozent, +1) sollte sich nichts Wesentliches ändern.
So weit, dass Deutschland die EU verlassen sollte - wie es Großbritannien vor wenigen Jahren getan hat - geht dagegen nur eine Minderheit. 14 Prozent der Wahlberechtigten stimmen der Aussage zu, Deutschland sollte aus der EU austreten. Vier von fünf Bürgerinnen und Bürgern (79 Prozent) lehnen das ab.
Dass sich die EU-Mitgliedschaft positiv auf unsere Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung auswirkt, sagen weniger Deutsche als noch vor einigen Jahren. Allerdings: Es ist nach wie vor eine Mehrheit, die solche Vorteile anerkennt. So sagen zwei Drittel der Deutschen (68 Prozent), durch die EU leben wir in Europa sicherer; das sind 10 Prozentpunkte weniger als noch im Vorfeld der jüngsten Europawahl im Mai 2019. Eine knappe Mehrheit von 56 Prozent ist der Meinung, die Mitgliedschaft in der EU sorge dafür, dass es uns wirtschaftlich besser geht (-22 im Vgl. zu Mai 2019); etwas mehr als jeder Dritte (35 Prozent) sieht das aktuell anders.
Eine Armee der EU-Staaten? Jeder Zweite unterstützt das
Krieg, Energiekrise, die hohe Inflation - selten gab es in der Vergangenheit so viele Krisen in so kurzer Zeit zu bewältigen. Auch die Verteidigung Europas ist durch den Ukraine-Krieg in den Fokus gerückt - in einer Europäischen Union, die zwar einen Kommissar für die Förderung des europäischen Lebensstils besitzt, aber keinen für Verteidigung.
Der französische Präsident Emmanuel Macron hat schon vor einigen Jahren, und damit deutlich vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine, eine gemeinsame europäische Armee gefordert. Einer solchen Idee stehen die Deutschen durchaus offen gegenüber. 53 Prozent fänden es gut, wenn es eine gemeinsame Armee der EU-Staaten gäbe. Ein Drittel der Deutschen (32 Prozent) lehnt diese Idee ab. 15 Prozent trauen sich kein Urteil zu.
Im Vorfeld der Europawahl im Mai 2019 waren es noch 62 Prozent, die eine gemeinsame Armee der EU-Staaten befürworteten. Damals trauten sich aber auch insgesamt mehr Bürgerinnen und Bürger ein Urteil in dieser Frage zu.
Unter den Befürwortern der Idee findet heute nur jeder Dritte (34 Prozent), eine gemeinsame Armee sollte die nationalen Armeen komplett ersetzen - also auch die Bundeswehr. Deutlich mehr Menschen finden, auch die nationalen Armeen sollten weiter bestehen bleiben. 62 Prozent der Befürworter sind dieser Ansicht.
Das gilt übrigens auch für die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Die 65-Jährige, die im kommenden Jahr als Spitzenkandidatin ihrer Partei zur Europawahl antreten wird, erneuerte im "Kölner Stadt-Anzeiger" jüngst die Forderung nach einer solchen Armee neben der Armee. Dagegen verliert Frankreichs Präsident seit dem 24. Februar 2022 kaum noch Worte zu seinem Projekt von einst.
Hälfte der Deutschen befürwortet EU-Beitritt der Ukraine
Der russische Angriffskrieg hat die Europäische Union verändert. Er hat sie auch vor die Frage gestellt, ob sie die Ukraine in ihre Mitte aufnimmt. Die Hälfte der Deutschen (52 Prozent) ist der Meinung, die EU sollte das langfristig tun. Damit ist die Unterstützung der Deutschen in dieser Frage zuletzt leicht zurückgegangen (-6 im Vergleich zu Februar). 37 Prozent der Deutschen sprechen sich gegen ein langfristigen EU-Beitritt der Ukraine aus.
Seit dem vergangenen Sommer trägt das Land den Titel eines offiziellen Beitrittskandidaten. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen wies bei ihrem jüngsten Besuch in Kiew allerdings darauf hin, dass weitere Reformanstrengungen nötig seien.
Mit der Arbeit von Ursula von der Leyen sind ein Jahr vor der nächsten Europawahl vier von zehn Deutschen (38 Prozent) sehr zufrieden bzw. zufrieden (+15 im Vergleich zu April 2021). Jeder zweite Deutsche (53 Prozent) ist mit ihrer Arbeit weniger beziehungsweise gar nicht zufrieden (-17).
Damit steht von der Leyen bei den Deutschen etwas besser da, als sie es in der Spätphase ihrer Zeit als Bundesverteidigungsministerin im Jahr 2019 tat. Zuvor aber erreichte sie in verschiedenen Ämtern zumeist deutlich höhere Zustimmungswerte. Bei Amtsantritt als Arbeitsministerin etwa waren Ende 2009 zwei Drittel mit ihrer Arbeit zufrieden.
Mehrheitlich kritisch gesehen wird die Rolle, die Bundeskanzler Scholz derzeit für den Zusammenhalt in der EU spielt. Knapp jeder vierte Deutsche (23 Prozent) ist der Meinung, der Bundeskanzler bringe den Zusammenhalt in der EU voran; sechs von zehn (60 Prozent) stimmen dieser Aussage nicht zu.
Zusammenarbeit mit China wird kritischer gesehen als mit den USA
Und welchen Partnern sollte sich die EU zuwenden? Die Zusammenarbeit der EU mit den USA wird größtenteils unterstützt. Eine relative Mehrheit von 42 Prozent ist der Meinung, diese solle im jetzigen Umfang fortgesetzt werden. Drei von zehn Deutschen (29 Prozent) meinen, sie sollte sogar ausgebaut werden. Jeder Fünfte (22 Prozent) sagt, die Zusammenarbeit mit den USA solle verringert werden.
Anders ist der Blick der Deutschen auf die Zusammenarbeit der EU mit China: Fast jeder Zweite (47 Prozent) ist der Meinung, diese sollte verringert werden. Drei von zehn (28 Prozent) würden sie im derzeitigen Umfang fortsetzen. 14 Prozent fänden es richtig, wenn die EU ihre Zusammenarbeit mit China ausbaut.
In der Frage, welche Rolle die EU international spielen kann, zeigen sich die Deutschen jedoch skeptisch. Jeder Zweite (53 Prozent) teilt die Aussage, die EU werde auf der internationalen Bühne nicht ernst genommen (+5 im Vergleich zu April 2014). Vier von zehn Deutschen stimmen dieser Aussage nicht zu.