IGLU-Studie 2021 Jeder vierte Viertklässler kann nicht richtig lesen
In vierten Klassen zeigen immer mehr Schülerinnen und Schüler Schwächen beim Lesen. Sie schneiden weit schlechter ab als Gleichaltrige in vielen anderen Ländern. Das liegt laut aktueller IGLU-Studie auch, aber nicht nur an den Folgen der Corona-Pandemie.
In Deutschland hat etwa ein Viertel aller Viertklässlerinnen und Viertklässler Schwierigkeiten beim Lesen. 25 Prozent der Kinder in dieser Altersstufe erreichen nicht das Mindestniveau beim Textverständnis, das für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit nötig wäre. Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung, IGLU.
Damit hat sich die Zahl der Grundschulkinder mit Schwächen beim Leseverständnis in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Insgesamt erreichten die an der Studie teilnehmenden Schülerinnen und Schüler im Bereich Lesekompetenz 524 Punkte. Zum Vergleich: In der vorangegangenen IGLU-Studie, die 2016 veröffentlicht worden war, hatten die vierten Klassen bundesweit noch 537 Punkte erreicht. Im Jahr 2001 waren es 539 Punkte gewesen. Der deutsche Punktwert ist damit nach anfänglicher Verbesserung Mitte der 2000er-Jahre zum dritten Mal in Folge auf einen Tiefstand gesunken.
Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die nicht das Textverständnis aufwiesen, das für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit nötig wäre, lag 2016 bei 19 Prozent und 2001 bei 17 Prozent.
Deutschland unter Mittelwert der EU
Im internationalen Vergleich landet Deutschland damit unter dem Durchschnitt der EU-Staaten, der 527 Punkte beträgt. Denselben Wert weist die Studie für die 38 Staaten aus, die zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gehören.
Unter den an der IGLU-Studie beteiligten 65 Staaten und Regionen weltweit belegte Singapur mit 587 Punkten den Spitzenplatz. Das sei besonders beachtlich, da der ostasiatische Inselstaat bei der ersten Erhebung 2001 noch deutlich hinter Deutschland gelegen habe, so Nele McElvany von der TU Dortmund, Leiterin der Studie in Deutschland. Auf dem letzten Platz steht Südafrika mit 288 Punkten.
Hohe Lesemotivation außerhalb der Schule
Trotz des gestiegenen Anteils an Schülerinnen und Schülern mit einem unzureichenden Textverständnis spricht die Studie den Kindern im internationalen Vergleich hohe Lesemotivation zu. 63 Prozent von ihnen gaben an, außerhalb der Schule mindestens eine halbe Stunde pro Tag zu lesen. Der Durchschnitt in den anderen EU-Staaten lag hier bei 54 Prozent und innerhalb der OECD bei nur 53 Prozent.
In der Schule werde allerdings zu wenig gelesen, so ein weiteres Fazit der IGLU-Studie. Im Durchschnitt werden in Deutschland pro Woche 141 Minuten Unterrichtszeit für Leseunterricht oder Leseaktivitäten verwendet. EU-weit kommen die vierten Klassen durchschnittlich auf 194 Minuten pro Woche. Mit Blick auf die OECD-Staaten sind es sogar 209 Minuten.
Bundesweit mehr als 250 vierte Klassen beteiligt
Die IGLU-Studie wird seit 2001 im Fünf-Jahres-Rhythmus durchgeführt. Verantwortlich ist das Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund. Gefördert wird die Untersuchung von dem Bundesbildungsministerium und der Kultusministerkonferenz.
An der aktuellen Studie beteiligten sich 2021 bundesweit 252 vierte Klassen mit etwa 4600 Schülerinnen und Schülern. Insgesamt nahmen etwa 400.000 Kinder an den Tests teil. Die Viertklässlerinnen und -klässler bekamen jeweils Sach- und Erzähltexte und dazugehörige Verständnisaufgaben, die sie an Laptops lösen mussten.
Negativtrend schon vor Corona
Die Autorinnen und Autoren der Studie gehen davon aus, dass auch die Schulschließungen während der Corona-Pandemie zu den größeren Schwächen beim Lesen geführt haben könnten.
Auch andere Bildungstests hatten bereits vor Auswirkungen der Corona-Auflagen gewarnt, etwa der IQB-Bildungstrend 2021, der im Oktober 2022 veröffentlicht worden war. Auch diese Untersuchung kam zu dem Schluss, dass die Kompetenzen von Schulkindern der vierten Klasse in den Fächern Deutsch und Mathematik abnehmen. Allerdings habe sich dieser Negativtrend bereits vor Ausbruch der Pandemie abgezeichnet.
Die IGLU-Studie führt für das sinkende Leistungsniveau beim Lesen ebenfalls weitere Ursachen an: etwa die heterogener werdenden Klassen. Dadurch würden Lehrkräfte vor größere und vielfältigere Herausforderungen gestellt.
Eines hat sich in den vergangenen 20 Jahren aber kaum verändert, so ein weiteres Fazit der Studie: die sogenannten sozialen Disparitäten in der Lesekompetenz. Was bedeutet, dass Kinder aus "sozioökonomisch benachteiligten Familien" häufiger Schwächen beim Lesen aufweisen.
Lesen als "Fundament für Bildungserfolg"
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger nannte die Ergebnisse der IGLU-Studie "alarmierend". "Gut lesen zu können, ist eine der wichtigsten Grundkompetenzen und das Fundament für Bildungserfolg", betonte die FDP-Politikerin. Deutschland brauche "dringend eine bildungspolitische Trendwende". Dabei müsse der Fokus vorrangig auf Grundschulen und auf der Stärkung der Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen liegen.
Auch Katharina Günther-Wünsch, Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Berliner Bildungssenatorin, sieht in der Leseförderung "eine der wichtigsten Maßnahmen, um Kindern und Jugendlichen einen erfolgreichen Bildungsabschluss und somit einen erfolgreichen Start in das berufliche Leben zu ermöglichen". Ohne einen Mindeststandard an Leseverständnis sei eine "gesellschaftliche Teilhabe" nur eingeschränkt möglich. Mit Blick auf die Ergebnisse der IGLU-Studie appellierte Günther-Wünsch an die Bundesländer, "gemeinsam nach schnellen, wirksamen und nachhaltigen Lösungen suchen". Die Unterstützung durch den Bund sei dabei "außerordentlich wichtig".