Holocaust-Überlebende Friedländer "Die Straßen waren anders als sonst"
"So hat es leider auch angefangen", sagt die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer mit Blick auf den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland. Im tagesschau24-Interview wendet sie sich mit eindringlichen Worten an die junge Generation.
tagesschau24: Sie waren elf Jahre alt, als die Nazis an die Macht kamen. Sie haben als Einzige in Ihrer Familie den Holocaust überlebt. Und heute, 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, sitzen wir hier gemeinsam und blicken auf eine Gesellschaft, in der es wieder mehr Antisemitismus gibt. Was macht das mit Ihnen?
Margot Friedländer: Es macht mich traurig, ich hätte es nicht erwartet. Als ich zurückkam nach Deutschland, nach Berlin, nachdem ich 64 Jahre in Amerika gelebt habe, war es ruhig. Ich bin enttäuscht.
"Ich spreche für die, die es nicht geschafft haben"
tagesschau24: Viele Jüdinnen und Juden in Deutschland haben seit dem Überfall der Terrormiliz Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, beziehungsweise seit dem Krieg im Nahen Osten, wieder mehr Angst hierzulande. Erinnert Sie das an die Zeit damals, als der Nationalsozialismus erstarkte?
Friedländer: So hat es leider auch angefangen. Doch weil wir ja sehr jung waren, haben wir es nicht geglaubt. Es ist leider noch viel schlimmer geworden, als wir uns jemals hätten vorstellen können. Ich spreche für die, die es nicht geschafft haben und nicht nur für die sechs Millionen Juden - für alle, die man umgebracht hat. Für Menschen, die nur Menschen sind. Und es ist für euch, für die Zukunft, für die Demokratie.
"Das ist meine Mission"
tagesschau24: Sie haben gesagt, dass Sie lange Zeit nicht wussten, dass es so schlimm werden würde. Wann war der Moment, als es Ihnen dämmerte?
Friedländer: Der 9. November. Die Straßen waren anders als sonst. Es haben sehr viele Uniformierte herumgestanden an Geschäften. Man hatte inzwischen auch gesehen, dass Schaufenster zerschlagen sind, dass Ware auf den Straßen liegt, dass sich Menschen Sachen nehmen, die auf der Straße liegen, oder ins Geschäft gehen, und dass die Uniformierten einfach nur dastehen und zugucken - und sich freuen.
tagesschau24: Sie sind heute 103 Jahre alt. Trotzdem führen Sie unermüdlich Gespräche an Schulen. Sie waren zu Gast im Bundestag, Sie waren auf dem Cover der Vogue und sitzen nun hier im tagesschau-Studio. Was ist Ihr persönlicher Antrieb?
Friedländer: Das hält mich, das ist meine Mission. Das ist, warum ich es mache.
"Dass es nie wieder geschehen wird"
tagesschau24: Ihr Bruder und Ihre Mutter wurden im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Sie selbst mussten monatelang untertauchen, und wurden dann an die Nazis ausgeliefert. Was hat Ihnen die Kraft gegeben, weiter um Ihr Leben zu kämpfen?
Friedländer: Die Hoffnung, dass es nie wieder geschehen wird.
tagesschau24: Was gibt Ihnen heute Hoffnung?
Friedländer: Dass man mich anhört, dass man versteht, was ich sage. Junge Menschen haben gelernt, sie müssen auch die Eltern erziehen - und besonders die Regierungen.
"Wenn ihr Menschen seid"
tagesschau24: Was ist Ihre Botschaft an die junge Generation?
Friedländer: Wenn ihr Menschen seid, würdet ihr so etwas nicht tun. Damals haben die Menschen gejubelt. Gejubelt, weil sie nicht wussten, für was. Ihr seid klüger, ihr habt gelernt, ihr wisst, was Menschlichkeit ist, was sich gehört, was wir sind. Dass Menschen, ganz egal, welcher Hautfarbe, welcher Religion - sie sind Menschen und müssen als Menschen respektiert werden.
tagesschau24: Frau Friedländer, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Friedländer: Ich danke Ihnen, dass Sie mich anhören. Ich danke euch, dass ihr versteht, was ich von euch erwarte und erhoffe für die Menschheit, dass so etwas nie wieder geschehen wird.
Das Gespräch führte Begüm Düzgün für tagesschau24. Für die schriftliche Fassung wurde es leicht angepasst.
Auschwitz ist zum Synonym für den Holocaust geworden. In das größte deutsche Konzentrationslager nahe der polnischen Kleinstadt Oswiecim in der Nähe von Krakau wurden zwischen 1940 und 1945 weit mehr als eine Million Menschen aus ganz Europa deportiert. Der überwiegende Teil waren Juden, dazu kamen etwa 140.000 Polen, Zehntausende Sinti und Roma sowie Tausende politische Häftlinge anderer Nationalität. Die Zahl der im KZ Auschwitz und vor allem im dazugehörigen Vernichtungslager Birkenau Ermordeten wird auf etwa 1,1 bis 1,5 Millionen Menschen geschätzt.