Razzia gegen "Letzte Generation" "Eine überzogene Entscheidung"
Die bundesweite Razzia gegen die Klimaaktivisten der "Letzten Generation" hält Protestforscher Saldivia Gonzatti für eine überzogene Reaktion. Damit werde die gesamte Bewegung kriminalisiert, sagt er im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Heute gab es erneut eine bundesweite Razzia gegen die "Letzte Generation". Den Klimaaktivisten wird vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung gebildet zu haben. Ist die Razzia aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?
Daniel Saldivia Gonzatti: Diese Frage stellt sich heute die ganze Republik. Aus meiner Sicht war es eine überzogene Entscheidung. Es ist eine juristische Entscheidung. Und sie führt dazu, dass die gesamte Bewegung kriminalisiert wird. Die Bewegung wird damit in die kriminelle Ecke gestellt. Sogar die Webseite der Gruppe wurde abgeschaltet, auf Anweisung der Staatsanwaltschaft in München.
In den letzten Monaten gab es mehrere Verurteilungen bezüglich Straftaten - es gab Geld- und Freiheitsstrafen. Aber von gewissen Individuen der Bewegung auszugehen und dann die Ermittlungen mit Razzien weiterzuführen, damit gießt man Öl ins Feuer. Sodass die Kriminalisierung jetzt Teil der politischen Debatte wird. Das ist das Problem daran.
Daniel Saldivia Gonzatti forscht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung zu Protest und politischer Radikalisierung in Deutschland. Sein Fokus liegt auf politischen Institutionen, Protestdynamiken und Medien.
"Letztendlich entscheiden das Gerichte"
tagesschau.de: Es geht ja nicht nur um die Straßenblockaden und die Störaktionen in Museen, die wir alle medial wahrgenommen haben, sondern auch um den Verdacht, dass zwei der Beschuldigten eine Ölpipeline sabotiert haben sollen. Das ist ja ein Angriff auf kritische Infrastruktur. Ist das dann nicht doch kriminell?
Saldivia Gonzatti: Ja klar. Letztendlich entscheiden das die Gerichte. Ich kann das juristisch nicht interpretieren oder in Kontext setzen, aber das wird wahrscheinlich zu einer Verurteilung führen. Aber was wir heute gesehen haben, war eine Verschärfung im Umgang mit der ganzen Bewegung.
Es ist ein Unterschied, ob man mit einer Protestbewegung umgeht, indem man Individuen vor Gericht stellt. Das hat der Rechtsstaat in den vergangenen Monaten getan. Oder ob man quasi die ganze Bewegung unter den Vorwurf einer kriminellen Vereinigung setzt.
"In einem politischen Kontext zu sehen"
tagesschau.de: Zu dem Vorwurf der kriminellen Vereinigung gehört auch, dass die Klimaaktivisten Spendengelder gesammelt haben und diese zur Begehung von Straftaten eingesetzt haben sollen. Kann man das so sagen?
Saldivia Gonzatti: Das ist genau die Frage, bei der Politik und Justiz sich schwertun, sie zu beantworten. Ja, seit Anfang der Bewegung gab es Angriffe auf Pipelines und damit auf kritische Infrastruktur. Aber ein Großteil der Bewegung äußert sich in einer anderen Protestform, nämlich in Straßenblockaden. Und hier tun sich Politik und Justiz schwer, das eindeutig als Straftaten zu benennen.
In der Protestforschung bezeichnen wir das als zivilen Ungehorsam. Ziviler Ungehorsam - das können Straftaten sein, aber auch keine Straftaten. Das ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess, wie wir diese Aktionen bewerten, was wir daraus machen. Und es gab in den letzten Monaten verschiedene Äußerungen aus der Politik, auch von Regierungsvertretern, wie diese Aktionen zu bewerten sind.
Es ist nicht eindeutig, dass zum Beispiel eine Straßenblockade direkt als Straftat zu bewerten ist. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat letzte Woche zum Beispiel bestätigt, dass sie die Bewegung nicht als kriminelle Vereinigung sieht. Das zeigt, dass es eine juristische Auslegungssache ist und dass es in einem politischen Kontext zu verstehen ist.
"Direkte politische Konsequenzen"
tagesschau.de: Die heutige Razzia ging von der Münchner Generalstaatsanwaltschaft aus. Wie ordnen Sie das politisch ein?
Saldivia Gonzatti: Es ist klar, dass das nicht in einem Vakuum stattfindet. Auch die Gewerkschaft der Polizei hat sich schon sehr politisch zu der Razzia geäußert. Der Rechtsstaat handelt, wo er handeln muss. Aber es ist nicht so, dass wir solche juristischen Aktionen als politisch komplett neutral ansehen können. Weil sie trotzdem im politischen Kontext entstehen.
Damit will ich nicht unterstellen, dass eine direkte politische Intention der Generalstaatsanwaltschaft in München besteht. Aber damit will ich sagen, dass es direkte politische Konsequenzen hat. Und Gerichte entscheiden auch im politischen Kontext. Verschiedene Gerichte können verschiedene Perspektiven auf die gleichen Proteste haben. Das haben wir durch die Berliner Staatsanwaltschaft letzte Woche gesehen.
"Divergenz zwischen Debatte und Realität"
tagesschau.de: Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang sagte Mitte März, er halte die "Letzte Generation" nicht für extremistisch, auch wenn sie teilweise kriminell agiere. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Grenzen des zivilen Ungehorsams?
Saldivia Gonzatti: Das entscheidet sich in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. In der Gesellschaft findet eine Diskussion statt, und die ist sehr unterschiedlich zu den Jahren davor. Wir haben ähnliche Blockaden auch bei Besetzungen erlebt, zum Beispiel im Hambacher Forst. Da gab es nicht so eine heikle Debatte.
Die Definition, wie weit ziviler Ungehorsam gehen darf und was kriminell ist, findet in der gesellschaftlichen Diskussion statt. Hier spielen auch Medien eine große Rolle. Wir sehen, dass Medien sehr stark gewisse Frames nutzen, um gewisse Proteste in eine gewisse Ecke zu schieben.
Politik benutzt auch sehr stark diese Frames. Wir haben zum Beispiel verschiedene Politiker und Politikerinnen, die den Terrorvorwurf genutzt haben. Das führt dazu, dass es eine Divergenz gibt zwischen der Debatte - wie bewerten wir diese Proteste - und der Realität.
Ziviler Ungehorsam ist selbstverständlich unangenehm und nervt. Das ist aber auch die Funktion dieser Art von konfrontativem Protest, der auch zur Demokratie gehört. Dann ist die Frage, wie wir im demokratischen Prozess entscheiden und wo wir die Grenzen setzen. Und genau in diesem Prozess befinden wir uns.
"Die Inhalte sind relativ moderat"
tagesschau.de: Inwiefern prägen staatliche Interventionen wie die heutige Razzia die öffentliche Wahrnehmung der "Letzten Generation"? Gibt es eine Radikalisierung in der Wahrnehmung?
Saldivia Gonzatti: Die Bewegung ist in der breiten Bevölkerung auf jeden Fall nicht beliebt. So eine Aktion, die man auch als staatliche Repression bezeichnen könnte, kann verschiedene Effekte haben. Viele werden sagen: Das ist zu Recht passiert. Andere werden aber denken: Anscheinend ist die staatliche Macht so verzweifelt, dass sie friedliche Proteste von klimafreundlichen Gruppierungen so unter Druck setzt. Das kann zu einer Motivation von Mitgliedern und auch zu einer Radikalität der Bewegung führen.
Was sagen solche staatlichen Maßnahmen über den Stand des Klimaschutzes seitens der Regierung aus? Man muss auch bedenken, dass die meisten Forderungen der "Letzten Generation" moderat sind. Es sind radikalere Aktionsformen, aber die Inhalte sind relativ moderat: das Neun-Euro-Ticket, ein Tempolimit. Solche Aktionen vom Staat können dazu führen, dass es wie ein Erfolg der Bewegung wirkt. Dass die Regierung verzweifelt wirkt, weil die Aktivisten so überzogen vom Staat behandelt werden.
Das Gespräch führte Belinda Grasnick für tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Version angepasst.