Messerangriff in Solingen "Man kann leider nicht alles verhindern"
Viele extremistische Gewalttaten können verhindert werden, wenn es rechtzeitig Hinweise gibt, sagt der Deradikalisierungsexperte Mücke. Doch es gelingt nicht immer. Ob es Signale beim mutmaßlichen Täter von Solingen gab, ist noch unklar.
tagesschau24: Gab es Hinweise, dass sich der mutmaßliche Täter von Solingen radikalisiert?
Thomas Mücke: Da muss man die Ermittlung abwarten. In welchem Kontext hat er sich radikalisiert? Warum sind hier die Anzeichen nicht gesehen worden? Und gab es vielleicht auch Personen, die wussten, dass er eventuell etwas vorhat?
tagesschau24: Hätten die Behörden denn handeln können?
Mücke: Wenn das die Behörden es gewusst hätten, dann hätten sie reagiert. Und das ist halt die schwierige Situation: Wenn wir keine Hinweissignale bekommen, die Behörden nicht, die Beratungsstellen nicht, dann hat man natürlich keine Möglichkeiten, derartige Anschläge zu verhindern. Das heißt, man ist darauf angewiesen, dass vom sozialen Umfeld oder von anderen irgendein Signal gegeben wird: Wir haben hier ein Problem.
Thomas Mücke ist Mitbegründer und Geschäftsführer des Violence Prevention Network. Die NGO ist in der Extremismusprävention und der Deradikalisierung tätig. Mücke ist Pädagoge und Politologe und arbeitet er bundesweit zu Methoden der Antigewaltarbeit, Konfliktmanagement, Jugendarbeit, Straßensozialarbeit sowie Rechtsextremismus und Islamismus.
"Enorme Dynamik der terroristischen Gefahr"
tagesschau24: Der IS hat die Tat für sich reklamiert. Wie kann man sich das vorstellen? Wie wurde dieser 26-Jährige mutmaßlich radikalisiert?
Mücke: Wir haben ja insgesamt doch eine enorme Dynamik der terroristischen Gefahr. Es gab 21 Anschlagsversuche seit dem 7. Oktober, und es gab sieben Anschläge, die in Westeuropa durchgeführt worden sind. Das heißt, es ist eine Vervierfachung dessen, was wir im Jahr 2022 hatten. Und das hat auch mit der Eskalation im Nahen Osten zu tun. Die terroristischen Organisationen versuchen, dieses Thema als Mobilisierungsthema zu verwenden und das in der extremistischen Szene zum Thema zu machen.
Wir kriegen das auch mit in den Beratungsanrufen. Die haben seit dem 7. Oktober zugenommen. Gott sei Dank haben wir in Deutschland eine sehr intensive Struktur, wo Beratungsstellen, Sicherheitsbehörden sehr gut zusammenarbeiten und wir in vielen Fällen die Radikalisierungsprozesse gerade am Anfang stoppen und verhindern können. Aber unabhängig davon, was alles getan wird: Man wird nie ausschließen können, dass es den einzelnen Anschlag geben wird.
"Man kann Vieles verhindern"
tagesschau24: Wie gehen Sie vor, um diese Radikalisierungsprozesse in den Anfängen zu stoppen. Wie machen Sie das konkret?
Mücke: Konkret ist es so, dass sehr oft zum Beispiel Eltern, die besorgt sind, die merken, dass an ihrem Kind sich was verändert, sich bei uns melden. Wir unterstützen dann die Eltern und wir nehmen auch mit der Person, die in diesen Radikalisierungsprozess ist, konkret sofort Kontakt auf und versuchen, eine Arbeitsbeziehung aufzubauen und über diese Arbeitsbeziehung die Deradikalisierung zu beginnen.
Das sind längerfristige Prozesse. Aber wir haben es mit Hunderten Personen in letzten Jahren zu tun gehabt, mit denen wir gearbeitet haben. Wir haben auch mit Personen gearbeitet, die Gefährder sind oder die wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt worden sind und die wieder ganz normal in die Gesellschaft integriert werden konnten. Es gibt Möglichkeiten, zu handeln.
Diese Arbeit findet im Stillen statt und wir haben in Deutschland, was die Deradikalisierungsarbeit angeht, in den letzten zehn Jahren ein sehr gutes System aufgebaut. Aber noch einmal: Man kann Vieles verhindern. Man kann leider nicht alles verhindern.
"Schnellstmöglich Hilfe in Anspruch nehmen"
tagesschau24: Was sind Anzeichen, wo man hellhörig werden sollte, wenn man im Umfeld eines solchen Täters ist? Was sind Aussagen, die wirklich ernst genommen werden sollten?
Mücke: Zum Beispiel: "Muslime werden weltweit verfolgt". Die Ablehnung der Demokratie, der Freiheitsrechte - das Kalifat als die einzige Lösung für all die Probleme und Konflikte, die ich in der Gesellschaft habe.
Ich denke, im sozialen Umfeld merken Menschen sehr schnell, dass ich im Wesen des Menschen etwas verändert. Und da ist es ganz wichtig, schnellstmöglich Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dafür gibt es die bundesweiten Beratungshotlines. Und je früher man einen Hinweis bekommt, desto eher können wir diese Entwicklung auch stoppen.
"Wir sollten nichts versprechen"
tagesschau24: Nach solchen grauenvollen Taten werden ja immer sofort Antworten gesucht, Konsequenzen gefordert. Das hören wir heute. Welche zusätzlichen Maßnahmen würden Sie aus Ihrer Sicht befürworten?
Mücke: Also erstmal müssen wir festhalten: Gott sei Dank ist der Tatverdächtige schnell festgenommen worden, weil von dem eine große Gefahr ausging. Hier zeigt sich auch: Die Strafverfolgung hat funktioniert.
In der Konsequenz müssen wir natürlich diskutieren. Jetzt wird diskutiert, Messer zu verbieten oder andere Hieb- und Stichwaffen in der Öffentlichkeit. Das hilft, die Alltagskriminalität zu reduzieren. Es hilft vor allen Dingen auch, das Sicherheitsempfinden der Menschen zu verändern.
Aber terroristische Anschläge wird es weitgehend nicht verhindern. Denn wer die Absicht hat, Menschen aus Hass gezielt zu töten, wird immer einen Gegenstand finden, mit dem es möglich ist. Also wir können einiges tun, aber wir sollten nichts versprechen, denn daran werden wir dann in Zukunft auch gemessen.
Die Frage, wie wir die Hinweise verstärken können, da würde ich jetzt noch einmal abwarten. Wussten andere Menschen darüber, was da geschehen ist? Wie kann man das dann erleichtern, dass diese Menschen das dann auch den Behörden oder den Beratungsstellen mitteilen, die Informationen weitergeben? Das müssen wir abwarten.
Aber eine Sache ist sehr wichtig: Terroristische Anschläge haben ein Ziel. Nämlich das Ziel, die Gesellschaft zu spalten, Angst und Schrecken zu verbreiten. Und wir dürfen uns auf diese Spaltung nicht einlassen. Für die Vielfältigkeit einer Gesellschaft ist es jetzt wichtig, sich dafür einzusetzen, was Terroristen am meisten hassen. Und das ist Demokratie und Freiheit.
Das Gespräch führte Susanne Stichler. Es wurde für die schriftliche Version gekürzt und redigiert.