Kommunen am Limit? Wie es um die Migration nach Deutschland steht
Vergangenes Jahr kamen etwa 330.000 Asylsuchende nach Deutschland. Eine Mehrheit der Deutschen sieht in der Migration ein großes Problem, Politiker fordern Maßnahmen. Doch sind die realistisch?
Sind die Kommunen am Limit?
Zum Teil. Schon im vergangenen Jahr hat die Stadt Lohmar im Rheinland beispielsweise auf ihre Not aufmerksam gemacht: Alle Sammelunterkünfte, Hotels und Wohnungen in der 30.000-Einwohner-Stadt sind belegt. Wo soll sie die Asylbewerber noch unterbringen? Und jede Woche kommen neue Menschen an.
Derzeit versorgt Lohmar im Rhein-Sieg-Kreis 574 Migranten und Flüchtlinge. In den Heimen wohnen Familien teils seit zehn Jahren, weil sie keine Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt finden. Das führt zu einem Rückstau.
Dieses Problem lässt sich auch bundesweit beobachten: Selbst nach fünf Jahren lebt noch jeder fünfte Flüchtling in einer Sammelunterkunft. Hinzu kommt der Zuzug der ukrainischen Kriegsflüchtlinge und der chronische Wohnungsmangel. In Lohmar kam Ende April eine achtköpfige Familie aus Somalia an. Die Stadt fand für die Familie kein Quartier und musste sie in einer Wohnung in der Obdachlosenunterkunft unterbringen.
Wohnungsnot in Lohmar: Geflüchtete werden in einer Obdachlosenunterkunft untergebracht.
Das ist aber nicht überall in Deutschland so: Laut einer Umfrage der Universität Hildesheim und des Mediendiensts Integration sieht sich die überwiegende Mehrheit (71,2 Prozent) von insgesamt 774 Kommunen bei der Unterbringung von Migranten und Flüchtlingen in einer Lage, die "herausfordernd, aber machbar" sei. Dagegen geben 22,9 Prozent der Kommunen an, sie seien im "Notfallmodus". Im Herbst 2023 waren es noch 40,4 Prozent.
In einer angespannten Situation befinden sich die meisten Ausländerämter - vor allem in größeren Städten. Die Zahl der Migranten hat sich verdoppelt, die Kapazitäten der Behörden aber nicht. Und jeder Migrant, der in Deutschland ankommt, muss durch dieses Nadelöhr. Laut Migrationsforscher Hannes Schammann von der Universität Hildesheim sind diese Behörden massiv überfordert.
Warum gibt es nicht mehr Abschiebungen?
Im vergangenen Jahr wurden 16.430 Personen aus Deutschland abgeschoben. Unmittelbar ausreisepflichtig waren im selben Jahr 48.700 Personen. Der Unterschied in den Zahlen liegt unter anderem daran, dass es nicht mit allen Herkunftsländern entsprechende Vereinbarungen gibt. Diese diskret einzufädeln, ist die Aufgabe des Sonderbevollmächtigten der Bundesregierung für Migrationsabkommen, Joachim Stamp.
Oft erlebt er, dass die Länder kein Interesse an der Rückkehr ihrer Bürger haben. Die Bundesregierung müsse diesen Ländern etwas anbieten, wie zum Beispiel Visumsfreiheit. "Es gibt auch Länder, die gar nicht kooperieren", sagt Stamp. Dann könne man auch nicht abschieben.
Der Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung, FDP-Politiker Joachim Stamp, verhandelt über Migrationsabkommen.
Der Unterschied ist groß zwischen dem, was öffentlich gefordert, und dem, was faktisch umgesetzt wird. Eine Abschiebung kann aus vielen Gründen scheitern: Treffen die Beamten den Menschen an, den sie mitnehmen wollen, oder ist er abgetaucht? Greifen Gerichte noch ein?
Auch gesundheitliche Gründe können entscheidend sein, erklärt der Düsseldorfer Arzt Clemens Wirtz, der seit 20 Jahren Abschiebungen begleitet. "Ein Kind mit Fieber ist nicht flugfähig." Auch der Pilot kann sich weigern, eine Person mitzunehmen, wenn er um die Sicherheit seiner Passagiere besorgt ist.
Wie wirksam sind Grenzkontrollen?
Es scheint logisch: Wer nicht möchte, dass Migranten irregulär ins Land gelangen, muss seine Grenzen besser kontrollieren. Das hat die EU in den vergangenen Jahren versucht und viel in die Grenzsicherung investiert. Zwischen 2015 und 2022 wuchs die Länge der Zäune im gesamten EU- und Schengen-Raum von 315 auf 2.078 Kilometer.
Grenzzaun an der Schengengrenze zwischen Bulgarien und der Türkei
Gleichzeitig soll die europäische Grenzschutzagentur Frontex bis 2027 auf insgesamt 10.000 Beamte aufgestockt werden. Deutschland hat vor etwa acht Monaten wieder stationäre Grenzkontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz eingeführt. Bundesinnenministerin Faeser will damit das "skrupellose Geschäft der Schleuser" unterbinden und "irreguläre Migration" begrenzen.
Anfang Juni 2024 gab das Ministerium bekannt, dass die Zahlen der "festgestellten unerlaubten Einreisen" von September bis April auf ein Drittel zurückgegangen seien. Allerdings zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre, dass die Zahlen im Winter und Frühjahr ohnehin zurückgehen.
Die Migrationsexpertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Victoria Rietig, hält Grenzkontrollen nur für kurzfristig effektiv. "Mittel- und langfristig tendieren dann die Schmuggler dazu, sich neue Routen zu suchen."
Der niederländische Migrationsforscher Hein de Haas geht einen Schritt weiter: Die Investition der EU in Grenzsicherung habe nicht gewirkt. "Es ist eine Illusion, man könnte das Problem damit lösen."
Die Landgrenzen der EU umfassen insgesamt 13.770 Kilometer. Überwachungskameras, Hunde und CO2-Messgeräte sind im Einsatz - immer wieder kommt es auch zu Gewalt gegen Migranten und Flüchtlinge. Dennoch ist die Zahl der Menschen, die nach Europa kommen, weiterhin fast unverändert hoch. Grenzkontrollen scheinen eine Wirkung zu haben - aber nur kurzfristig und wohl auch regional begrenzt.
Kann man Schleppern das Handwerk legen?
Fünf Kurden aus dem Iran passierten Anfang März bei Ostritz unerlaubt die deutsche Grenze. Sie liefen unter widrigsten Bedingungen tagelang durch den Wald zwischen Belarus und Polen und haben überlebt. 16.000 US-Dollar haben sie einem Schlepper pro Person bezahlt, sagen sie. In Deutschland wollen sie um Asyl bitten.
Jeden Tag kommen hunderte Menschen mit solchen Geschichten in Deutschland an. Fast alle mit Schleppern, die sich in den Herkunftsstaaten oder unterwegs einfach kontaktieren lassen. Die Bundespolizei kämpft gegen diese Schleuserkriminalität an - ein mühsames Unterfangen.
Ende Februar wurde etwa ein Kühl-LKW von der Polizei gestoppt. Hinten im Sattelauflieger versteckten sich 28 Menschen. Die beiden türkischen Fahrer wurden verhaftet. Aus den Fotos der Kriminaltechniker werden die Umstände der Schleusung deutlich. Die Menschen saßen, hockten, kauerten auf Paletten mit Wein. Ihre Notdurft verrichteten sie in Plastikflaschen. Diese Informationen werden sich auf die Strafe für die beiden Fahrer auswirken.
Diese Flaschen mit Urin wurden in einem LKW sichergestellt, in dem 28 Menschen geschmuggelt wurden.
Sie gelten im Schleppernetzwerk als "kleine Fische" - die der Polizei am häufigsten ins Netz gehen. Über Datenauswertung versuchen die Ermittler, auch an die Zwischenhändler zu kommen. Bei ihnen hinterlegen die Migranten das Geld. Man könnte sie als mittlere Fische bezeichnen. Die Figuren an der Spitze der Schlepperorganisationen treten nie nach außen in Erscheinung und sowohl sie als auch die Zwischenhändler gehen der Polizei seltener ins Netz.
Wie entwickeln sich die Schleuserstrategien?
Das Bundeskriminalamt (BKA) stellte zuletzt 2022 einen starken Anstieg illegaler Migration auf der Balkanroute und auf der zentralen Mittelmeerroute fest. Die Schleuser agierten "professionell, flexibel" und zunehmend risikobereit. Das bandenmäßige Einschleusen stieg demnach um 235 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Die Täter sind über viele Länder hinweg vernetzt. Das macht es schwer, sie zu fassen. Das europäische Polizeiamt Europol arbeitet zwar mit über 27 Ländern im Datenaustausch zusammen - allerdings auf freiwilliger Basis. Wenn ein Land nicht kooperieren will, ist Europol an dieser Stelle machtlos.
Frontexchef Hans Leijtens stellt fest, Schlepper würden immer neue Wege finden.
Selbst der Chef der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex, Hans Leijtens, hält das Ziel, Schleppern das Handwerk zu legen, für sehr schwierig und ehrgeizig. Sie würden immer wieder neue Wege finden.
Die Dokumentation "Deutschland am Limit? Abschiebung, Abschottung, Asyl" ist in der ARD Mediathek zu sehen.