Zweifel an Scholz auch in NRW-SPD "Viel Zuspruch für Boris Pistorius"
Es ist längst mehr als ein "Grummeln": In der SPD werden die Zweifel an einem Kanzlerkandidaten Scholz lauter - inzwischen auch aus dem mächtigen NRW-Landesverband. Die SPD-Führung plant für heute Abend eine Schalte zur K-Frage.
Der Kanzler ist weit weg - mehr als 10.000 Kilometer entfernt von Deutschland in Brasilien beim G20-Gipfel. Weltpolitik statt Innenpolitik. Obwohl, ein bisschen Wahlkampf in eigener Sache ist es wohl schon, wenn er sich im fernen Rio weiter klar gegen "Taurus"-Lieferungen an die Ukraine ausspricht und dabei auch mit den Ängsten vieler Menschen in Deutschland vor einer Ausweitung des Krieges argumentiert.
Absetzbewegungen in NRW
Die Debatte in seiner SPD über seine Eignung als erneuter Kanzlerkandidat kann Scholz im fernen Rio aber nicht eindämmen. Was anfangs nur ein "Grummeln"- so die Formulierung von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich - war, ist inzwischen zu einem unüberhörbaren Grundrauschen geworden.
Nun meldeten auch zwei führende SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem mächtigen Landesverband Nordrhein-Westfalen Zweifel an Scholz' Kandidatentauglichkeit an. "Im Zentrum steht die Frage, was die beste politische Aufstellung jetzt für diese Bundeswahl ist. Dabei hören wir viel Zuspruch für Boris Pistorius", teilten die beiden Vorsitzenden der NRW-SPD-Landesgruppe im Bundestag, Dirk Wiese und Wiebke Esdar, mit und berichten von einer kritischen Debatte in den Wahlkreisen.
Sie betonen zudem:
Das aktuelle Ansehen von Bundeskanzler Olaf Scholz ist stark mit der Ampelkoalition verknüpft. Mit einigem Abstand werden seine Arbeit und seine Entscheidungen für unser Land mit Sicherheit weitaus positiver beurteilt werden.
Das klingt fast schon wie ein vorzeitiger Abgesang auf den Bundeskanzler. Was die Wortmeldung zusätzlich brisant für Scholz macht: Beide sind zugleich Vorsitzende der mächtigen Strömungen innerhalb der SPD-Fraktion - Esdar als Sprecherin der Parlamentarischen Linken, Wiese als Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises.
Ärger im NRW-Landesverband
Offenbar sprechen sie aber nicht für alle NRW-Abgeordneten der SPD. "Diese Statement der Vorsitzenden ist nicht in der NRW-Landesgruppe beschlossen worden", sagte der nordrhein-westfälische Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer der Nachrichtenagentur Reuters. "Es ist missverständlich, schwächt den Bundeskanzler und hat bei den SPD-Bundestagsabgeordneten keine Mehrheit. Ich habe sofort für morgen eine Sondersitzung der NRW-MdBs beantragt."
Zudem stehen die Äußerungen von Wiese und Esdar im Widerspruch zu den Äußerungen der SPD-Parteivorsitzenden, des ebenfalls aus NRW stammenden Fraktionsvorsitzenden Mützenich, sowie des SPD-Generalsekretärs Matthias Miersch, die sich zuletzt alle klar für Scholz ausgesprochen und die Debatte für beendet erklärt hatten.
Thüringens SPD-Chef rückt von Scholz ab
Mit Thüringens SPD-Landeschef Georg Maier rückte ein weiterer Politiker von Scholz ab. Dieser sei zwar ein sehr guter Kanzler, der vieles vorzuweisen habe. "In der Bevölkerung wird er aber für das Scheitern der Ampel mitverantwortlich gemacht, ohne dass er das zu verschulden hätte", sagte Maier dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage, ob aus Sicht der Partei ein Wechsel bei der Kanzlerkandidatur nicht besser wäre." Das Wohl der Partei müsse immer vorgehen.
Ex-Parteichef Gabriel kritisiert Parteispitze
Dass die Debatte über Scholz überhaupt an Fahrt gewinnt, liegt auch am bislang fehlenden eindeutigen Beschluss der Parteiführung, etwa des Präsidiums oder des Bundesvorstands. Die Parteispitze wollte mit der Nominierung ursprünglich bis Ende November warten. SPD-Chef Lars Klingbeil hatte zuletzt aber angedeutet, dass man dies auch vorziehen könne.
An diesem Vorgehen übte Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel nun scharfe Kritik. "An der Basis der SPD steigt jeden Tag der Widerstand gegen ein 'Weiter-so' mit Kanzler Scholz. Und der SPD-Führung fallen nur Beschwichtigungen und Ergebenheitsadressen ein", schrieb der frühere Bundesaußen- und Bundeswirtschaftsminister bei X. Jetzt sei mutige politische Führung gefragt. Wer das laufen lasse, bringe die SPD unter 15 Prozent, warnte er. Der ehemalige Vizekanzler Gabriel ist heute Chef des Vereins Atlantik-Brücke.
Pistorius lobt Scholz und schließt nichts aus
Ob die Parteispitze die Debatte wieder einfangen und beenden kann, ist mit jeder Scholz-kritischen Stimme mehr als fraglich. Die Rufe nach Boris Pistorius als Alternativkandidat werden lauter. Der amtierende Verteidigungsminister gehört zu den in Umfragen beliebtesten Spitzenpolitikern im Land - ganz anders als Scholz.
Der Hochgelobte selbst äußerte sich bislang nicht eindeutig und ließ sich bei Fragen zu einer möglichen Kanzlerkandidatur stets eine Hintertür offen. Der Satz "Ich stehe für eine Kandidatur nicht zur Verfügung" hörte man in der aktuellen Debatte nicht von Pistorius. Auch nicht am Montagabend bei einer Veranstaltung in Bayern:
In der Politik sollte man nie irgendetwas ausschließen, ganz egal, worum es geht. Das Einzige, was ich definitiv ausschließen kann, ist, dass ich noch Papst werde.
Er lobte zugleich Scholz, dieser mache einen richtig guten Job. Und er habe gesagt, dass er weitermachen wolle. Das sei das Normalste der Welt. Pistorius fügte hinzu:
Da ich erstens ein zutiefst loyaler Mensch bin, zweitens in meiner Lebensplanung nie drinstand, Verteidigungsminister zu werden oder gar Bundeskanzler, werde ich 'nen Teufel tun und mir jetzt sagen: Ich mache das, ich trete jetzt an. Nein, das werden Sie von mir nicht hören. Ich bin Parteisoldat.
Scholz' "schwacher Punkt"
Scholz hatte Pistorius Anfang 2023 aus Niedersachsen ins Kabinett geholt, als er Ersatz für die zurückgetretene Verteidigungsministerin Christine Lambrecht brauchte. Mit seiner "Klartext-Sprache" kam er auf Anhieb gut an - bei der Bundeswehr und auch in Umfragen. Für viele verkörpert er all das, was Scholz nicht vermag: verständliche Sprache, Zugewandtheit und Nahbarkeit.
Auf Scholz vermeintliche Schwächen wies auch Ex-Parteichef Norbert Walter Borjans hin: "Wahr ist aber auch, dass (CDU-Chef Friedrich) Merz nur mit einem Kanzler zu verhindern wäre, der auf den letzten Metern die Kraft aufbringt, selbstkritisch und nahbar den Unterschied deutlich zu machen. Das ist bisher Olaf Scholz‘ schwacher Punkt", sagte er in der Rheinischen Post. Die Verantwortlichen müssten nun "bitte rasch entscheiden, notfalls in einer Nachtsitzung."
SPD-Führung berät am Abend
Für heute Abend plant die SPD-Führung eine Schaltkonferenz, in der es auch um die Kür des Kanzlerkandidaten gehen dürfte. Einer SPD-Sprecherin zufolge handelt es sich um "eine regelmäßige Telefonkonferenz mit den stellvertretenden Parteivorsitzenden zur Organisation des vorgezogenen Wahlkampfs in Bezug auf Daten und Fristen". An dem Gespräch sollen die Parteivorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken, Generalsekretär Matthias Miersch und die stellvertretenden Parteivorsitzenden teilnehmen.
Scholz ist derzeit noch beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro, seine Rückkehr in Berlin wird für Mittwochmorgen erwartet.