Zerstörung nach der Flut im Ahrtal in Rheinland-Pfalz

Bundesweiter Warntag Wie gut ist der Katastrophenschutz im Ahrtal?

Stand: 12.09.2024 05:00 Uhr

Die Flutkatastrophe im Ahrtal hat gezeigt, wie schlecht der Katastrophenschutz im Einzelfall in Deutschland funktioniert. Hat sich das verbessert - so wie Politiker es nach der Flut versprachen?

Anfangs dachten Florian Ulrich und seine Kollegen, es würde ein ganz normaler Einsatz. Ulrich ist Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr in Ahrbrück im Ahrtal. "Wir hatten ungefähr das Hochwasser von 2016 vor Augen. Das war das, was wir uns vorgestellt haben. Und dahingehend haben wir auch die Maßnahmen eingeleitet." Heute wissen sie, dass sie mit ihrer Einschätzung verheerend weit danebenlagen.  

Doch sie hatten an diesem 14. Juli 2021 überhaupt keine Chance, die Situation richtig einzuschätzen. Denn ihnen fehlten die Informationen - es fehlte eine Warnung vor der Katastrophe.  

In dieser Nacht fielen in Teilen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen bis zu 100 Liter Regen auf einen Quadratmeter. Die schmale Ahr schwoll innerhalb mehrerer Stunden zu einem reißenden Fluss an. Viel Ausweichfläche gibt es im engen Ahrtal für das Wasser nicht. 135 Menschen fanden den Tod in den Fluten, 9.000 Gebäude und 100 Brücken wurden zerstört.  

Heute weiß man auch, dass die Meldeketten nicht funktionierten - teilweise wegen menschlichen Versagens, auch weil die Technik nicht auf dem neuesten Stand war. Aber auch, weil die Bewohner nicht darauf trainiert waren, auf Warnungen angemessen zu reagieren. 

Probealarm fest im Kalender

Katastrophen-Warntage wie der 12. September gehören heute fest ins Repertoire des Katastrophenschutzes, um Unglücke wie das im Ahrtal in Zukunft zu verhindern. Frank Roselieb ist Krisenforscher, Direktor des Krisennavigator-Instituts für Krisenforschung. Er forscht, schult und berät Wirtschaft und Politik in Sachen Frühwarnsysteme bei Naturkatastrophen und hatte im Ahrtal-Untersuchungsausschuss das Gutachten der Staatsanwaltschaft als lückenhaft kritisiert.  

Das Katastrophenmanagement bei der Ahrflut sei seiner Meinung nach unterdurchschnittlich gewesen, es habe mehrere Fehler im Management gegeben, ein Verwaltungsstab habe gefehlt, und der zuständige Landrat sei nicht vor Ort gewesen. Katastrophenalarm sei erst nach 23 Uhr ausgelöst worden - möglich und notwendig sei das aber schon um 18.30 Uhr gewesen.

 

Hat sich der Katastrophenschutz flächendeckend verbessert?

Roselieb sagt, es habe sich seither einiges getan im Katastrophenschutz. Nach einer Umfrage in allen 400 Land- und Stadtkreisen sowie den drei Stadtstaaten kristallisierte sich heraus, dass drei Dinge besser geworden sind: "Erstens ist personell sehr stark aufgestockt worden. Das heißt Ämter, die man früher mit Ehrenämtlern besetzt hat, werden jetzt mit Hauptämtlern versehen", sagt Roselieb.

Zweitens sei das Schnittstellenmanagement verbessert worden, staatliche Seite und Hilfsorganisationen arbeiteten jetzt besser zusammen. "Und das Dritte ist, dass man vom Prinzip Vertrauen eher zum Prinzip Kontrolle übergeht, also ein Vier-Augen-Prinzip eingeführt hat, um auch ganz konkret zu sehen, wenn etwas schiefgeht, und das nicht erst in der Krise, sondern schon davor." 

Grundsätzlich ist der Krisenforscher aber nicht der Meinung, dass der Katastrophenschutz in ganz Deutschland vorher schlecht gewesen ist. Das System habe eigentlich funktioniert - "nur eben nicht im Ahrtal. Da hatten wir es auch weniger mit einem Systemproblem zu tun, eher mit einem Systemsprenger, also einem einzelnen Landrat, der sich über die ganzen geltenden Dienstvorschriften hinweggesetzt hat."  

"Reifegrad" als Indikator der Vorbereitung

Ein regelmäßig ermittelter "Reifegrad der Katastrophenschutzorganisation" liege deutschlandweit bei etwa 85 Prozent - 15 Prozent sind also verbesserungsfähig. Man kann also nicht vom Ahrtal auf den Rest des Landes schließen. "Das Ahrtal hatte 31 Prozent, das heißt, es war dreimal so schlecht aufgestellt wie der Durchschnitt Deutschlands.  

Deshalb waren die Feuerwehrleute um Florian Ulrich in der Flutnacht auf sich allein gestellt, als sie feststellten, dass die Flut nicht mit dem Hochwasser von 2016 vergleichbar war. Ihr Funk fiel aus, und das Handynetz war auch zusammengebrochen. Also gingen sie von Haus zu Haus und warnten die Menschen.  

Doch in die benachbarten Ortsteile auf der anderen Seite eines Berges konnten sie nicht fahren, mit ihren Fahrzeugen kamen sie nicht mehr durch die Fluten. "Es blieb nur: zu Fuß los! Wir haben entschieden, fußläufig über diesen Berg zu gehen und sind dann mit einer Einheit von zehn Leuten mit Rettungsrucksack, Getränken und Verpflegung losmarschiert." Dort retteten sie zwei Menschen. "Einer, der auf der Leitplanke stand und sich an ein Straßenschild festhielt, und einer, der in einem Baum saß." 

Florian Ulrich sagt von sich, er habe den Einsatz und die Erlebnisse gut verkraftet, doch er wünscht sich trotz zahlreicher Verbesserungen im Katastrophenschutz immer noch mehr Umdenken im Land: "Wir haben jetzt elektronische Sirenen über den Ort verteilt, um die Bevölkerung warnen zu können." Auch in Sachen Digitalfunk habe das Land nachgearbeitet. "Aber das wird eine Katastrophe nicht verhindern. Im Vergleich zu anderen Bundesländern ist Rheinland-Pfalz immer noch nicht gut aufgestellt. Da ist noch Luft nach oben". 

Deutschland muss mal "fünfe gerade sein lassen"

Frank Roselieb geht sogar noch weiter: Im Vergleich zum Ausland sei ganz Deutschland zu langsam - gebremst durch Bürokratie und überzogenem Datenschutz. "Die Beschaffungsvorgänge dauern ewig. Wir haben durchgerechnet, wie lange es dauert, Deutschland mit Sirenen auszurüsten. Da denken wir gar nicht mehr in Jahren, da denken wir mittlerweile in Jahrzehnten, das macht das Ausland in zwei bis drei Jahren". Kommunen, findet Roselieb, würden noch immer alleingelassen, da müsse der Bund "einfach mal fünfe gerade sein lassen", damit es im Katastrophenfall besser klappt.  

Vergleichsweise wenig Sorgen mache er sich im Bereich der Naturkatastrophen, da seien wir mittlerweile recht gut aufgestellt. Sorgen bereite ihm zum einen der Zivilschutz - also die militärische Komponente: "Wir haben Schutzräume abgebaut, das war der falsche Weg". 

Zum anderen Cyber-Risiken: "Früher mussten sie physisch in das Atomkraftwerk eindringen und irgendwelchen Schaden anrichten zu können, die Stadtwerke persönlich stürmen. Heute können Sie aus einem fernen Land per Cyberattacke tätig werden. Und da fehlt uns noch so ein bisschen das Bewusstsein für die Gefahren, die dort ruhen". 

Im Ahrtal sitzt die Angst vor einer neuen Flut bei vielen Bewohnern immer noch tief. Viele sagen, dass sie das Vertrauen in die Behörden nicht zurückgewonnen haben, obwohl sie die Sirenen entlang der Ahr hängen sehen. Wenn es regnet, sagen sie, werde es ihnen immer noch ganz anders.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 12. September 2024 um 09:00 Uhr sowie SWR4 am Vormittag am 29. April 2024 um 10:00 Uhr.