Debatte um Wiedereinführung Was gegen die Wehrpflicht spricht
Verteidigungsminister Pistorius findet: Die Aussetzung der Wehrpflicht war ein Fehler. Aber gibt es ein Zurück? Politisch setzt sich kaum jemand ernsthaft dafür ein. Woran liegt das?
Es war der neue Verteidigungsminister, der den Wehrpflicht-Stein ins Wasser geworfen hat. Doch allzu große Wellen hat er nicht geschlagen. Dafür gibt es viele Gründe. Doch zunächst noch einmal zurück zum Ausgangspunkt. In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" sagte Boris Pistorius wörtlich: "Wenn Sie mich als Zivilisten fragen, als Staatsbürger, als Politiker, würde ich sagen: Es war ein Fehler, die Wehrpflicht auszusetzen".
Die Parlamentsarmee sei durch die bis 2011 greifende Pflicht besser in der Mitte der Gesellschaft verankert gewesen. "Früher saßen an jedem zweiten Küchentisch Wehrpflichtige. Auch dadurch gab es immer eine Verbindung zur Zivilgesellschaft." Keine Diskussion, sondern lediglich eine "Gespensterdiskussion" erlebte im Anschluss FDP-Chef Christian Lindner.
Heute bewertet CDU-Politiker Henning Otte den Aufschlag von Pistorius als den "Versuch, ein Thema zu besetzen, das in der Ampel-Koalition allerdings nicht abgestimmt ist". Deswegen, so sagt der Verteidigungspolitiker dem ARD-Hauptstadtstudio, "hat das auch keine Aussicht auf Erfolg".
Ein Gegenargument hat Pistorius von Anfang an gleich selbst mitgeliefert.
Gegenargument 1: Die ungewollte Pflicht
"Ich habe aber ein Problem damit, jüngeren Generationen jetzt eine Pflicht aufzubürden." Auch dieser Satz findet sich im Interview von Pistorius. Genauso sehen es auch die Liberalen. Bitte keine Spekulationen über eine neue Dienstpflicht fordern sie, allen voran Lindner. Und das nicht nur, weil die Idee dem auf Eigeninitiative und Freiheit setzenden Weltbild der FDP zuwider läuft. Sie verweisen auf all das, was die Corona-Pandemie gerade den Jungen aufgebürdet hat. Sie erinnern an den Fachkräftemangel und sprechen von einem großen Schaden, würde man "einen ganzen Jahrgang von Ausbildung und Beruf" abhalten.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kennt diesen Gegenwind. Er hatte bereits im vergangenen Jahr eine Dienstpflicht-Debatte angestoßen, weit über die Bundeswehr hinaus. Steinmeier wünscht sich, "dass noch mehr Menschen in unserem Land sich fragen, was sie für das gemeinsame Ganze tun können und tun wollen." Bei allem freiwilligen Engagement erwiderten ihm junge Menschen bei einer Gesprächsrunde in Schloss Bellevue, die Politik solle sich aus der Lebensplanung junger Menschen heraushalten. Wenn die einen von Pflichtzeit sprechen, reden die anderen von Zwangsdienst.
Gegenargument 2: Die Kasernen-Krise
Duschcontainer vor dem Kompaniegebäude, weil die Sanitärbereiche wegen Legionellengefahr geschlossen sind (Zweibrücken). Zwei Toiletten für 90 Männer und Frauen (Idar-Oberstein). Undichte Fenster und überbelegte Stuben (Eckernförde). Wer ein wenig im Wehrbericht von Eva Högl blättert, findet viele Hinweise von Soldatinnen und Soldaten, die die Kasernen-Krise veranschaulichen.
Die Wehrbeauftragte Högl hat bei ihren Truppenbesuchen eine teils "marode" Infrastruktur vorgefunden. Auch das Wort "desolat" fiel mit Blick auf die Unterbringung der Soldatinnen und Soldaten. Zitat: "Trotz Investitionen in Höhe von 4,7 Milliarden Euro in den Jahren 2017 bis 2021 besteht weiterhin ein hoher Investitions- und Sanierungsstau. Bau- und Sanierungsvorhaben ziehen sich nicht selten über viele Jahre, in einigen Fällen sogar über Jahrzehnte hin."
All das klingt nicht nach einer Einladung, um zusätzlich Zehntausende Wehrpflichtige unterzubringen. Pistorius sagte beim Besuch eines Panzerbataillons bei Bielefeld, es gebe gerade andere Aufgaben zu stemmen, "die viel Geld, Kraft und Zeit kosteten". Das stehe jetzt im Vordergrund. Gemeint ist damit auch die Ausstattung der Bundeswehr.
Gegenargument 3: Die Mängel-Armee
Schießt nicht, fährt nicht, fliegt nicht, schwimmt nicht… Die vielen "Nicht" will der Verteidigungsminister unbedingt streichen. Aus Sicht von Pistorius werden dafür weder das 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr ausreichen, noch die etwa 50 Milliarden Jahresetat. Doch solange der zusammengesparte Zustand der Bundeswehr so ist, wie er ist, spricht wenig dafür, eine große Zahl zusätzlicher Soldatinnen und Soldaten mit zu wenig oder defekten Gerät zu beschäftigen.
So ist beispielsweise dem "Bericht zur materiellen Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr" zu entnehmen, dass von diesen Systemen im Schnitt drei von vier funktionieren. Schlimmstes Beispiel: Hubschrauber. Da liegt die Einsatzbereitschaft weiterhin bei lediglich 40 Prozent. Ob Kasernennot oder Umgang mit neuen Technologien: "Genau aus diesen Gründen ist es nicht zweckdienlich, über die Wehrpflicht nach altem Muster zu diskutieren", findet CDU-Verteidigungspolitiker Otte.
Gegenargument 4: Die Experten-Armee
Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) hat die Aussetzung der Wehrpflicht auf den Weg gebracht, Thomas de Mazière (CDU) hat sie umgesetzt. Die Unions-Verteidigungsminister sollten sparen - und wer sparen will, muss kleiner werden. Die Folge war auch eine Berufsarmee mit Spezialisten für Auslandseinsätze. Panzer wurden eingemottet, Munitionsdepots geschlossen, Kasernen zurückgebaut. Wer aber Experten will, kann mit raus- und reinrotierenden Pflichtdienstlern nur wenig anfangen.
Solche Experten braucht es künftig auch wegen immer komplexerer Waffensysteme. So sprechen manche statt von modernen Kampfpanzern lieber von Computern auf Ketten. Eine Wehrpflicht würde "uns aufhalten auf dem Weg zur Profi-Bundeswehr", warnte deshalb diese Woche der FDP-Politiker Johannes Vogel im Bundestag. Ob Luftwaffe oder Cyber-Aufklärung: Spezialisten sind gefragt.
Also doch bloß eine Gespensterdebatte?
Die AfD hatte Ende 2020 einen Antrag im Bundestag gestellt, die Wehrpflicht wieder einzusetzen. Mindestens zwölf Monate für alle Männer, das war ihr Ziel. Mindestens 30.000 Wehrpflichtige pro Jahr. Alle übrigen Fraktionen waren schon damals dagegen. Die größte Oppositionsfraktion bleibt bei ihrem Nein. CDU-Vertreter Otte wirbt stattdessen für ein "verpflichtendes Gesellschaftsjahr", für das sich seine Partei beim letzten Bundesparteitag ausgesprochen hat.
Wenigstens über die Wehrpflicht nachdenken möchte dagegen nicht nur der Verteidigungsminister, sondern auch die Wehrbeauftragte Högl. "Wir müssen die Debatte jetzt beginnen", sagte die SPD-Politikerin Mitte der Woche der "Augsburger Allgemeinen". Aber auch sie will nicht zum alten Modell zurück, das - wenn überhaupt - erst in Jahren wirksam würde. Stattdessen wirbt sie für mehr Personal für die Bundeswehr.
Immer schon ein Anhänger der Wehrpflicht ist dagegen nach eigenem Bekunden Marineinspekteur Jan Christian Kaack. Er argumentiert mit einer größeren und besser durchmischten Truppe. Kaack verweist auf das Modell Norwegen: Von rund 70.000 Gemusterten würden nur rund 15.000 auch genommen. Gegner verweisen da allerdings auf das Prinzip der sogenannten Wehrgerechtigkeit, das eine solche Auswahl verbiete.
Das laute politische (Nach-)Denken wird so bald zwar nicht enden. Für die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht in alter Form bräuchte es allerdings allein schon aus praktischen Gründen einen langen, mehrjährigen Anlauf. Regierungssprecher Steffen Hebestreit hat das so zusammengefasst: Den Umbau von der Wehrpflichtigen- zur Berufsarmee könne "man nicht einfach so rückgängig machen". Insofern sei die jüngste Debatte "ein Stück weit (...) unsinnig".