Einwanderung und Integration "Deutschland wird langsam erwachsen"
Zurzeit wird in Deutschland heftig über eine angebliche Massenzuwanderung aus Osteuropa diskutiert. Migration präge Europa seit langem, sagt der Forscher Aladin El-Mafaalani im Gespräch mit tagesschau.de. Deutschland werde in Sachen Integration langsam erwachsen.
tagesschau.de: Welche großen Migrationsbewegungen hat es in der Vergangenheit gegeben?
Aladin El-Mafaalani: Die Geschichte Europas ist durch Migration geprägt. Besonders seit der Industrialisierung kamen Arbeitskräfte aus Osteuropa nach Deutschland, vor allem ins Ruhrgebiet. Auch damals gab es Probleme - und es hat sicherlich 40 bis 50 Jahre gedauert, bis diese sich abgeschwächt hatten. In den Zeiten der Weltkriege mussten zahlreiche Menschen fliehen oder wurden vertrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen dann die Gastarbeiter nach Deutschland. Ab den 1990er-Jahren wurde die Zuwanderung ganz erheblich eingeschränkt. Erst durch die EU-Freizügigkeit und die Wirtschaftskrisen gibt es jetzt wieder deutlich mehr Zuwanderung.
tagesschau.de: Das sind alles sehr unterschiedliche Bewegungen - gibt es dennoch Gemeinsamkeiten, mit Blick auf die Reaktionen auf die Zuwanderung?
El-Mafaalani: Es gibt eine Form des Diskurses, die sich auch in klassischen Einwanderungsländern wie den USA oder Kanada wiederholt. Dabei geht es um die Unterscheidung zwischen "guten" und "schlechten" Zuwanderern. Das könnte man als kapitalistisches Grundprinzip bezeichnen: Man möchte die Top-Leute und keine Armutseinwanderung. Doch Armutseinwanderung in die reicheren Staaten wird es sowieso immer geben. Darauf sollte man nicht zu stark den Fokus legen.
tagesschau.de: Also dürften gut ausgebildete Deutsch-Türken keine Probleme haben?
El-Mafaalani: Doch, denn es gibt zudem auch ein nationalistisches Konzept. Nämlich das Prinzip der Zugehörigkeit durch Abstammung. Das ist in Deutschland klassisch prägend, während es anderswo viel mehr um den Geburtsort geht. Daher reicht es nicht, "nur" die Sprache zu beherrschen und hier aufgewachsen zu sein.
tagesschau.de: Welche Folgen hat das?
El-Mafaalani: Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund, die in der Schule oder an der Uni sehr erfolgreich sind, haben Probleme, anerkannt zu werden. Sie werden nicht als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft gesehen. Wie soll sich jemand, der hier geboren wurde, perfekt Deutsch spricht, hier studiert hat, mit einem Land identifizieren, in dem er permanent das Gefühl hat, nicht dazuzugehören oder gar unerwünscht zu sein?
tagesschau.de: Wie äußert sich diese Ausgrenzung?
El-Mafaalani: In der migrantischen Jugendsprache wurde der Begriff biodeutsch geprägt. Der Begriff bringt zum Ausdruck, dass man nur dann so richtig dazugehört, wenn man "biologisch", also von der Abstammung her, deutsch ist. Der Begriff markiert eine kritische Alltagserfahrung der Nicht-Zugehörigkeit. Gleichzeitig macht die Verwendung dieses Begriffs nur dann Sinn, wenn man sich auch als Deutscher fühlt. Es ist also gewissermaßen konstruktive Kritik, die sich in diesem Wort ausdrückt.
"Bleib wie Du bist, aber gestalte mit!"
tagesschau.de: Nun gibt es viele Ideen, hochqualifizierte Zuwanderer nach Deutschland zu locken. Warum sind solche Modelle überhaupt nötig?
El-Mafaalani: Die Grundidee in Deutschland ist: Alle müssen sich anpassen. Diese Vorstellung ist für Hochqualifizierte unattraktiv. Diese Menschen müssten geradezu ein äußerst gestörtes Verhältnis zu ihrer Herkunft haben, wenn sie ihre eigene Identität komplett aufgeben wollen. Attraktiver wäre das Angebot: Bleib wie Du bist, aber gestalte mit!
tagesschau.de: Also müssen sich nicht nur Zuwanderer bewegen, sondern auch die, die schon hier leben?
El-Mafaalani: Ein großer Teil der Mehrheit möchte sich selbst nicht verändern. Die Zuwanderer sollen ganz viel mitbringen, aber sich dann vollständig anpassen. Es ist eine Illusion, dass Deutschland damit auf dem Weltmarkt attraktiv wäre. Langfristig sind die Staaten attraktiv, die große Freiheiten bei der Lebensgestaltung und der Pflege der eigenen Kultur bieten. Wegen der Krise in Europa kommen viele Menschen nach Deutschland - notgedrungen. Aber die Bleibedauer der höher Qualifizierten ist eher kurz. Und vor der EU-Krise haben wir davon gesprochen, dass Deutschland ein Auswanderungsland geworden ist.
tagesschau.de: Wie bewerten Sie denn die Fortschritte bei der Integration?
El-Mafaalani: Vor 15 bis 20 Jahren war die Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund deutlich geringer. Das verbessert sich.
tagesschau.de: Was konkret bedeutet Teilhabe?
El-Mafaalani: Nehmen wir türkischstämmige Menschen, die es besonders schwer hatten: Aus dieser Gruppe machen immer mehr Jugendliche Abitur, wir haben Top-Regisseure, Schauspieler, Comedians, Professoren, Unternehmer, Politiker, Medienleute, selbstverständlich auch Fußballer. Nur das wird oft alles gar nicht gesehen. Vielmehr werden die Probleme, die es natürlich gibt, überbetont.
tagesschau.de: Warum ist das so?
El-Mafaalani: Auf der einen Seite gibt es also eine zunehmend gelungene Integration, auf der anderen Seite eine Orientierungslosigkeit, die teilweise zu panischen Debatten führt. Das Prinzip der Abstammung ist nicht mehr haltbar - weder rechtlich, noch aus ökonomischen Gründen. Und daraus entwickelt sich ein Bedürfnis zu fragen, was eigentlich deutsch sei. Diese Orientierungslosigkeit lässt sich auf dem Buchmarkt ablesen, wo Bücher erfolgreich sind, in denen Fragen nach dem Deutschsein und der deutschen Identität diskutiert oder aber die Probleme von Zuwanderung überbetont werden.
tagesschau.de: Woran machen Sie noch Fortschritte bei der Integration fest?
El-Mafaalani: Mittlerweile ist in Deutschland passiert, was in allen Einwanderungsländern passiert: Die Migranten sind besser integriert und organisieren sich. Sie vertreten selbstbewusst ihre Meinung. Das Entscheidende ist: Wenn die Menschen gut integriert sind, sagen sie unter Umständen nicht mehr, was die Mehrheit hören will. Das kennen alle Eltern und Lehrer: Sobald Kinder selbstständig werden, haben sie einen eigenen Kopf - und äußern Dinge, die einem vielleicht nicht gefallen.
tagesschau.de: Also wird die Bundesrepublik als Einwanderungsland langsam erwachsen?
El-Mafaalani: Deutschland wird langsam erwachsen, davor kommt aber noch die wilde Jugend. Und die haben wir anscheinend noch nicht ganz überwunden, wenn man die Sarrazin-Debatte, aber auch die derzeitige Diskussion betrachtet. Früher hat die Grünen-Chefin die Türkeistämmigen vertreten, heute erledigen das die Verbände selbst. Sie haben sogar zum Teil die deutsche Verbandsstruktur übernommen, vertreten sich in guter deutscher Sprache, mit guter Lobbyarbeit, absolut in der Tradition der politischen Auseinandersetzung hier.
Und das scheint einige Leute ganz besonders zu stören. Einige Wissenschaftler erklären diese Ablehnung mit Rassismus beziehungsweise Kulturrassismus. Ich tendiere eher zu der These, dass zu lange an einer Idealvorstellung festgehalten wurde, wonach sich die Gesellschaft nicht ändern soll und nicht ändern wird.
tagesschau.de: Aber die Gesellschaft verändert sich.
El-Mafaalani: Ja. Und gerade durch die sehr starke Fokussierung auf die Abstammung war man nie gezwungen, ein dynamisches Selbstbild zu entwickeln. In anderen Staaten wurden ständig eigene Idealvorstellungen entwickelt, weil sie mit verschiedenen Kulturen zu tun hatten, die integriert werden müssen.
tagesschau.de: Wo steht Deutschland im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten?
El-Mafaalani: Die Probleme werden hier überbetont, dabei könnte man auf die Erfolge in Deutschland bei der Integration verweisen, denn die Gesellschaft funktioniert recht gut, wenn man sie mit Konflikten in England, Frankreich oder auch Schweden vergleicht. Viele möchten offenbar nicht hören, dass es vom Trend her mit der Integration in Deutschland deutlich voran geht. Dies sollte man - bei allen Problemen - nicht aus den Blick verlieren. Gleichzeitig sind Islamfeindlichkeit und andere Ängste weiterhin verbreitet, und das, obwohl es Deutschland ökonomisch prächtig geht.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de