Missbrauch in der Kirche "Ein klerikales System der Vertuschung"
Der Umgang mit den Missbrauchsskandalen dürfte auch die Beratungen beim Synodalen Weg bestimmen. "Systematische Vertuschung" wirft Harald Dreßing der Kirche vor. Er ist Mitautor der Missbrauchsstudie von 2018.
tagesschau.de: Bis Samstag tagen wieder katholische Bischöfe und Laien, um über Reformen zu beraten, der sogenannte Synodale Weg. Ihre Studie war 2018 Ausgangspunkt für diesen Reformprozess. Wie war die Atmosphäre damals, als Sie mit Bischöfen die Studie in einer Pressekonferenz vorgestellt haben?
Harald Dreßing: Ich habe zu Kardinal Marx und dem Missbrauchsbeauftragen Bischof Ackermann gesagt, dass gleich Fragen zu Verantwortung und Konsequenzen kommen werden. Sie schienen eher überrascht und darauf nicht vorbereitet.
tagesschau.de: Kein Bewusstsein für Verantwortung?
Dreßing: Zumindest öffentlich hat zunächst niemand persönliche Verantwortung übernommen.
tagesschau.de: Nun wurde bekannt, dass auch der deutsche Papst Josef Ratzinger in seiner Zeit als Münchner Erzbischof Missbrauch vertuscht hat.
Dreßing: All das ist seit der Veröffentlichung der MHG-Studie seit 2018 ja keine Überraschung. Neu ist, dass jetzt auch Namen genannt werden. Aber auch das ist ja keine Überraschung, denn wir haben schon damals in unserer Studie empirisch zeigen können: Die sexuellen Missbrauchsfälle wurden systematisch vertuscht, zum Beispiel durch Versetzung.
tagesschau.de: Und die Bischöfe tragen dafür die Verantwortung?
Dreßing: Natürlich. Aber solche Entscheidungen werden auch nicht völlig allein getroffen. Sondern da gibt es Sitzungen des Geistlichen Rats oder Ordinariatskonferenzen. Da sitzen mehrere höhergestellte Kleriker, und die müssten solche Fällen auch mitbekommen haben. Ich habe aber auch von keinem Kleriker dieser Hierarchieebene bisher gehört, dass er von sich aus, ohne dass ihm entsprechendes nachgewiesen wurde, gesagt hätte: Ich habe da Fehler gemacht und bin bereit, Verantwortung zu übernehmen.
tagesschau.de: Kardinal Marx und der Hamburger Erzbischof Heße haben ihren Rücktritt angeboten.
Dreßing: Relativ spät, muss man sagen. Aber immerhin. Und dann heißt es aus Rom: Wir nehmen diesen Rücktritt nicht an! Ich habe vor kurzem ein Interview von Pater Zollner gelesen, der ja auch aus dieser Institution Kirche stammt und der sagt: Wenn jemand zurücktreten will, dann kann er auch zurücktreten. Eine solche Verantwortungsübernahme, die sich nicht nur in bloßen Bekundungen erschöpft, wäre auch für die Betroffenen ein wichtiges und überfälliges Signal.
tagesschau.de: Jetzt ist in der Kirche wieder von Erschütterung die Rede. Vermutlich wird es in diesen Tagen bei den Reformdiskussionen zunächst nur um den Fall Ratzinger gehen.
Dreßing: Ich frage mich: Wie viele Rituale von Schambekundungen und Reuebekundungen brauchen wir denn noch? Es wird durch die Wiederholung eigentlich nicht glaubwürdiger. Es zeigt sich immer wieder ein klerikales System der Vertuschung. Es wird gerade das eingeräumt, was man wirklich nicht mehr bestreiten kann und selbst dann werden noch redaktionelle Fehler als Erklärung angeboten.
Es braucht eine nationale Wahrheitskommission
tagesschau.de: Vor einer Reformdebatte hätte es eine umfassendere Aufklärung geben müssen?
Dreßing: Unsere Arbeit von 2018 zum Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland, die MHG-Studie, ist eine wissenschaftliche Studie. Das ist keine Aufarbeitung. Vielmehr eine Basis, auf der Aufarbeitung hätte beginnen können. Wir haben uns auch sehr bemüht, Mittel zu bekommen für eine große nationale Dunkelfeldstudie - auch in Berlin. Da wird Interesse bekundet, aber gefördert worden ist da bisher nichts. Es kann nicht sein, dass jede Diözese selbst anfängt, nochmal eine Studie in Auftrag zu geben oder eine Kommission zu gründen.
Wir bräuchten jetzt wirklich eine nationale Wahrheitskommission. Die müsste auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden. Diese Kommission bräuchte Zugriffsrechte auf Akten, zum Beispiel auf Sitzungsprotokolle aus Ordinariaten. Dass diese gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht da sind, da versagt bisher auch die Politik. Die bisherigen kirchlichen und staatlichen Strukturen sind für die Aufarbeitung des Missbrauchsgeschehens nicht ausreichend. Meines Erachtens braucht es hierzu eines mutigen und neuen Ansatzes, der alles offenlegt. Das könnte auch ein Ausgangspunkt sein, der es der Kirche ermöglichen könnte, neues Vertrauen als moralische Instanz zurückzugewinnen.
Das Interview führte Sebastian Kisters, HR