EU-Taxonomie Wissenschaftler im Abseits
Deutsche Wissenschaftler kritisieren gegenüber NDR, WDR und SZ die von-der-Leyen-Pläne für eine grüne Taxonomie in der EU scharf. Der Entwurf sei nicht nur "Greenwashing", sondern gefährde den grünen Wandel in Europa.
Sebastian Rink von der Frankfurt School of Finance gibt sich alle Mühe, seiner Enttäuschung nicht freien Lauf zu lassen. Ausführlich spricht er darüber, wie wichtig die Taxonomie sei, wie viele unterschiedliche Aspekte sie habe.
Die Messlatte, die sich die Europäische Union gesetzt hat, ist hoch: Die gesamte Wirtschaft der EU soll auf "Grün" stellen.
Damit das gelingt, bedarf es gewaltiger Investitionen - finanziert vor allem aus dem Privatsektor, also auch über Geldanlageprodukte von Verbraucherinnen und Verbrauchern. Das Geld in die grüne Richtung lenken soll die Taxonomie - ein Regelwerk, das für alle Wirtschaftsbereiche definieren soll, was nachhaltig ist und was nicht. Das Ziel, eine wissenschaftsbasierte und frei von Lobbyinteressen geschriebene Taxonomie, steht sogar in der EU-Verordnung.
"Nicht wissenschaftlich" und "nicht produktiv"
Rink beschäftigt dabei besonders eine Frage: Welche Technologien darf die Finanzbranche künftig Anlegern und Investoren als "grün" und damit als nachhaltig verkaufen. Dann legte die EU-Kommission am Silvesterabend ihren Entwurf dazu vor - und Rink sagt: "Dieser Entwurf ist nicht wissenschaftlich und auch nicht produktiv, was die weitere Entwicklung der Taxonomie angeht." So wie der Entwurf jetzt aussieht, sagt Rink, mache er es deutlich schwieriger, Finanzströme "auf Aktivitäten umzulenken, die die europäische Wirtschaft grüner gestalten".
Atomkraft und Gas können im Kommissionsentwurf als nachhaltig eingestuft werden - zwei Punkte die seit dem Neujahrstag die öffentliche Debatte prägen und Andreas Hoepner in Rage bringen. Vom "größten Greenwashing" aller Zeiten spricht er. Hoepner, Professor für nachhaltige Finanzen an der Universität Dublin, hatte lange gehofft, an einem "Meilenstein" auf dem Weg in ein klimaneutrales Europa mitzuarbeiten. Er sollte die Kommission dazu beraten.
Jetzt üben Hoepner und andere deutsche Wissenschaftler gegenüber NDR/WDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) scharfe Kritik an dem Entwurf der Von-der-Leyen-Kommission zur Taxonomie. Da sei "null Prozent von der Empfehlung der wissenschaftlichen Expertengruppe drin", sagt Hoepner. Auch Rink spricht von einem "verwässerten" Entwurf.
"Plattform für nachhaltige Finanzen"
Dabei sah alles nach einem so schönen Plan aus: 57 Interessenvertreterinnen und -vertreter von Banken, Kirchen, Umweltverbänden, Energiekonzernen und Universitäten sitzen an einem Tisch und entwickeln Maßstäbe dafür, was zukünftig in der EU als grünes Investment gilt.
"Plattform für nachhaltige Finanzen" taufte die EU-Kommission dieses Beratergremium und schrieb ihm eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Taxonomie in Europa zu. "Das waren viele lange Diskussionen, die wir geführt haben, um jedes kleine Wort im Abschlussbericht", sagt Rink, der dem Gremium zuarbeitete.
Beeinflussung durch Energielobbyisten?
Schlüsselrolle hin oder her, der jetzige Entwurf greift die Vorschläge der Wissenschaftler kaum auf. Für Atomkraft hatten sie eigentlich keinen Platz in der Taxonomie gesehen. Auch nicht für Sonderregeln wie für Gaskraftwerke. Wie verdreht er den Vorschlag findet, beschreibt Hoepner mit: "Das ist so, als würde man Pommes frites als Salat bezeichnen."
Hoepner hat für diese Art Sondertaxonomie für Atom und Gas nur eine Erklärung: Im Zuge der Entwicklung der Taxonomie wanderte die Zuständigkeit von der Finanzbehörde DG Fisma zur Energiebehörde der EU-Kommission. Die stehe unter starkem Einfluss der europäischen Energiewirtschaft, meint er.
Das vermuten auch andere Mitglieder des Beirates. Neben öffentlichen Politikerbekundungen, zum Beispiel für die Atomkraft, berichten sie auch, wie Energielobbyisten den Prozess immer wieder beeinflussten.
Sonderregeln für Gas
Während die Atomkraft in der deutschen Debatte über die Taxonomie für Aufregung sorgt, stören sich die Wissenschaftler besonders an den Sonderregeln für Gas im Kommissionsentwurf.
Der enthält beispielsweise Richtwerte, die es zulassen, dass neue Gaskraftwerke ihre CO2-Verschmutzung nicht jährlich abrechnen müssen, sondern über einen Durchschnitt gerechnet auf 20 Jahre. Damit würden Kraftwerke als "grün" gelabelt, die womöglich gerade in den ersten Jahren Millionen Tonnen CO2 ausstoßen.
Finanzexperte Rink klingt angesichts dessen fast etwas ratlos: "Das eigentliche Ziel war ja die Förderung von Technologien, die einen substanziellen Beitrag zum Klimaschutz leisten." Doch die sollen sich bei potentiellen Investoren nun neben Gas und Atomkraft einreihen. Andreas Hoepner rechnet vor, der Entwurf gäbe in Summe Spielraum für 1,4 Milliarden Tonnen CO2-Emissionen mit grünem Label.
Wenig Hoffnung auf Änderungen
Davon, dass das Taxonomie-Beratergremium in Atomkraft- und Gasfragen umgangen worden sei, will die EU-Kommission allerdings nichts wissen: "Die Entwicklungen im Bereich von Nuklear- und Gasaktivitäten im Zusammenhang mit der EU-Taxonomie wurden bereits mehrfach öffentlich bekannt gegeben, und es wurden bereits öffentliche Konsultationen beziehungsweise eingehende Expertenberatungen durchgeführt", schreibt ein Kommissionssprecher NDR, WDR und SZ.
Weiterhin verweist der Sprecher darauf, dass die Plattform für nachhaltige Finanzen bis 21. Januar genauso wie die Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament den Kommissionsvorschlag noch kommentieren können. Doch Rink und Hoepner berichten nach ersten Gesprächen mit Kommissionsvertretern, dass sie wenig Hoffnung auf größere Änderungen des Vorschlags haben.
"Sicherheit ist die Mutter der Nachhaltigkeit"
Dass ein ursprünglich wissenschafts- und expertenbasiertes Vorgehen durch einzelne Branchen derart aufgebrochen wurde, beunruhigt Rink. Gerade arbeitet die Plattform für nachhaltige Finanzen an weiteren Kapiteln für die Taxonomie. In diesem Fall ging es darum, ob ein Anleger wirklich in ein nachhaltiges Unternehmen investiert.
Aber künftig soll die Taxonomie beispielsweise auch Klarheit darüber herstellen, ob in einem Unternehmen bestimmte soziale Standards gelten. Hier sei gerade ein Präzedenzfall geschaffen worden, sagt Rink - und damit ein Risiko, dass sich Einzelinteressen der EU-Länder und Lobbyismus auch in anderen Bereichen mehr Raum verschaffen könnten.
So gibt es schon jetzt offenbar viel Hoffnung auf einen weiten Spielraum in der EU-Taxonomie: Der Bundesverband der Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie fordert gerade ebenfalls, aufgenommen zu werden und damit als nachhaltig zu gelten - und begründet dies mit dem Slogan "Sicherheit ist die Mutter der Nachhaltigkeit".