Ein Aktenordner mit Fahndungsfotos des früheren Wirecard-Finanzvorstands Jan Marsalek.
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Prozess in London Spionageziel Deutschland

Stand: 03.02.2025 07:05 Uhr

Der frühere Wirecard-Vorstand und mutmaßliche Russland-Spion Marsalek wollte offenbar eine US-Militärbasis in Stuttgart ausforschen lassen. Seine mutmaßlichen Agenten waren wohl nicht zum ersten Mal in Deutschland aktiv.

Von Manuel Bewarder und Florian Flade, WDR/NDR

Die Operation, an deren Ende zahlreiche Festnahmen stehen, beginnt mit einer schnöden Frage per Chat: "Können wir den IMSI-Catcher in Deutschland einsetzen? Wir müssen Ukrainer in einer deutschen Militäreinrichtung ausspionieren."

Ein IMSI-Catcher ist ein High-Tech-Gerät. Mit einem solchen Gerät kann man Handynummern von Personen in der Nähe ausspionieren.

Der Mann, der diese Sätze im Oktober 2022 per Telegram verschickte, soll nach Auffassung westlicher Sicherheitsbehörden Jan Marsalek gewesen sein, Ex-Wirecard-Vorstand und einer der meistgesuchten Männer weltweit. Die Antwort des Bulgaren Orlin Roussev, offenbar ein Vertrauter Marsaleks in England, folgt prompt: "Klar können wir das." Das Gerät zum Ausspähen von Telefonnummern "wartet und verstaubt in meiner Indiana-Jones-Garage." So beginnt eine außergewöhnlich heikle Operation.

Mutmaßlicher Agentenring

Fast 80.000 Chatnachrichten, Finanztransaktionen und Reisebewegungen haben britische Ermittler seit der Festnahme Roussevs im Februar 2023 ausgewertet und aufbereitet. Diese Informationen bilden die Grundlage für einen spektakulären Prozess, der seit November in London läuft.

Im Fokus steht ein mutmaßlicher Agentenring. Auch Marsalek spielt in dem Prozess eine große Rolle. Er soll seit seiner Flucht Mitte 2020 als russischer Spion den Agentenring rund um Roussev angeleitet haben. Roussev gehört zu mehreren Bulgaren, die die Spionage für Russland bereits gestanden haben. Andere Angeklagte, zwei Frauen und ein Mann, weisen den Vorwurf jedoch zurück, sie hätten gewusst, dass sie Aktionen für Moskau ausgeführt hätten.

Geplant und beauftragt aus Russland

Neue Recherchen zeigen Details, wie sehr auch Deutschland ins Visier von Marsaleks mutmaßlichem Agentenring geriet. Dafür haben WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung unter anderem Chatnachrichten ausgewertet, die den Geschworenen im Londoner Gericht vorgetragen wurden oder aus weiteren Recherchen zu Marsalek vorliegen.

Die Analyse macht deutlich, warum seit einiger Zeit auch der deutsche Generalbundesanwalt ermittelt. Es zeigt auch, wovor Sicherheitsbehörden seit Jahren warnen: Tötungspläne, Entführungen, Ausspähung mit Drohnen, Graffiti-Propaganda - geplant und beauftragt aus Russland.

Entführungs- und Tötungspläne

Zum Beispiel soll Marsalek eine Gruppe von Türken in Berlin aktiviert haben, um Geld für eine geplante Aktion aus der deutschen Hauptstadt nach Wien zu schaffen. Dort soll das Ziel gewesen sein, den Investigativjournalisten Christo Grozev auszuspähen, wobei die Chats zwischen Marsalek und Roussev sogar von Entführungs- und möglichen Tötungsplänen handeln.

Pikant auch: Eine der in London Angeklagten sagte aus, an der Produktion eines diskreditierenden Plakates beteiligt gewesen zu sein, auf dem statt eines Soldaten aus der Zeit der Nationalsozialisten im Original ein Foto von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) prangte. Der Text darauf: "Wer Strom spart, hilft der Wehrmacht."

Teams für kurzfristige Aktionen

Das Netzwerk aus Personen, auf das Roussev für Operationen zurückgreifen konnte, ging offenbar weit über die in Großbritannien Festgenommenen hinaus. Von mehreren Teams allein in Bulgarien ist die Rede. Auch in Deutschland hatte Roussev laut seinen Mitteilungen in Berlin und Stuttgart Leute für Graffiti-Aktionen rekrutiert. Einer der Angeklagten berichtete, dass sie Sticker in Berlin geklebt hätten.

Als es irgendwann um schnell verfügbare Hilfe ging, schrieb Marsalek, dass man für ein Attentat in Berlin Studenten im Internet angeheuert habe. Was er damit gemeint haben könnte, ist unklar.

US-Stützpunkt im Fokus

Im Prozess in London aber spielt vor allem die Ausspähung des US-Stützpunktes Patch Barracks bei Stuttgart eine Rolle. Diese Militäreinrichtung ist umfassend geschützt, dort befindet sich die Zentrale der US-Streitkräfte. Ziemlich genau formulierte Roussev den Ausspähauftrag, mit dem er zwei Bulgaren Ende 2022 nach Stuttgart geschickt haben soll. Sie sollten den für später geplanten umfassenden Einsatz vorbereiten.

"Der Eingang zu einer Ausbildungseinrichtung für ukrainische Soldaten muss beobachtet werden", erklärte Roussev. Den IMSI-Catcher installiere man wohl am besten in einem Apartment. Marsalek übermittelte noch eine Idee: Warum nicht eine Drohne über der US-Basis fliegen lassen, um zu "gucken, wie viele Monate es dauert, bis sie das mitbekommen?"

Spaziergang am Zaun

Es gibt Videos von diesem ersten Trip nach Stuttgart, aufgenommen mit einer versteckten Kamera. Die Geschworenen im Gerichtssaal sahen, wie ein Bulgare, der bereits gestanden hat, und eine der Angeklagten in einem Waldstück direkt am Zaun entlang spazieren, an einem geparkten Polizeiwagen vorbei und vor dem Eingang zur Militäranlage.

"Dort sind alle fünf Meter Kameras zu beiden Seiten", meldete der Bulgare. Die angeklagte Bulgarin sagte vor Gericht, sie habe zunächst nicht hinterfragt, wozu oder wem dieser Auftrag dienen könne. Sie habe sich auf die Aktion gefreut. Ihr Vater wohne gar nicht so weit weg von Stuttgart.

"Total nervös"

Marsalek aber sorgte sich wohl, dass die Amateur-Agenten auffallen. "Hast Du keine Angst, dass sie zu viel Aufmerksamkeit erregen, wenn sie so dicht am Zaun im Wald herumspielen?", fragte er bei Roussev nach. "Unsere Freunde hier", schrieb Marsalek und meinte damit wohl seine Kontakte im russischen Geheimdienst, "haben mich gebeten, Dich beziehungsweise das Team um äußerste Vorsicht zu bitten, weil die Deutschen im Moment total nervös sind, was die Aktivitäten des russischen Geheimdienstes vor Ort angeht".

Nur wenige Wochen zuvor hatte die Präsidentin des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), Martina Rosenberg, sogar öffentlich vor Ausspähaktionen etwa mit Drohnen gewarnt.

Detaillierte Kalkulation

"Wir sind erfahren und wissen, wie man sich versteckt", versuchte der Bulgare zu beruhigen. Man sei nicht so fahrlässig wie die "Skripal-Touristen", womit Roussev wohl auf zwei russische Spione anspielte, die 2018 als Touristen getarnt in England versucht hatten, den russischen Überläufer Sergej Skripal mit Gift zu ermorden.

"Wir sind vorsichtig", schrieb Roussev. "Wir nutzen auch ein bulgarisches Mädchen, das in Stuttgart lebt - sie war auch Teil des Graffiti-Teams." Detailliert kalkulierte Roussev die Kosten des geplanten Einsatzes. Er rechnete mit 40.000 bis 45.000 Euro für einen Monat.

Schuldig bekannt

Anfang Februar 2023 sollte es schließlich losgehen. Marsalek schrieb Roussev, dass 70 Ukrainer in Deutschland angekommen seien, die am Flugabwehrsystem Patriot ausgebildet werden sollten. Ab der folgenden Woche könne man bereit sein, versprach Roussev. Marsalek reagierte euphorisch und dachte bereits an die nächste Aktion: "Nachdem wir den IMSI in Deutschland benutzt haben, könnten wir dasselbe auch in Großbritannien tun."

Doch dazu ist es dann offenbar nicht mehr gekommen. Wenige Tage später wurden Roussev und andere Bulgaren festgenommen. Anfang November 2024 stand der Bulgare schließlich im Gerichtssaal auf und sagte: "I am guilty" (Ich bin schuldig).