Russland Systematische Spionage in der Ostsee
Russland spioniert Windparks, Datenkabel und Pipelines in der Ostsee systematisch aus. Ein internationales Rechercheprojekt kann erstmals die Fahrten mutmaßlicher russischer Spionageschiffe nachzeichnen.
Es ist offenbar ein Zufall, der die Bundespolizei im Oktober 2023 auf die richtige Spur führt. Auf dem Radar eines deutschen Einsatzschiffes tauchen die Umrisse eines Schiffes auf, das sich mitten im Windpark "Arcadis Ost 1", wenige Seemeilen vor Rügen befindet. Die Transponder, die eigentlich die Position des Schiffes angeben sollen, seien abgestellt gewesen, heißt es aus Sicherheitskreisen.
Das ist offenbar Kalkül: Denn das russische Forschungsschiff "Gorigledzhan", auf das die Bundespolizei an diesem Tag stößt, gehört zum streng geheimen Tiefsee-Forschungsprogramm der russischen Streitkräfte (GUGI). An Bord des Schiffes befinden sich neben der regulären Besatzung auch bewaffnete Soldaten - und sensible technische Geräte, mit denen sich der Meeresboden auskundschaften lässt. Die Bundespolizei nimmt Kurs auf das Schiff und fordert den Kapitän dazu auf, den Windpark sofort zu verlassen. Dieser Anweisung sei die "Gorigledzhan" dann auch gefolgt, heißt es aus Sicherheitskreisen.
Verletzung territorialen Rechts
Die mysteriöse Fahrt der "Gorigledzhan" ist kein Einzelfall. Immer wieder tauchen derzeit vermeintliche russische Forschungsschiffe wie aus dem Nichts in Nord- und Ostsee auf. Offiziell sollen die Schiffe "hydrographische Forschung" betreiben. Doch sie werden auch dazu eingesetzt, systematisch Daten- und Energiekabel, militärische Infrastruktur und Windparks auszuspionieren.
Dies verstößt jedoch in Territorialgewässern von anderen Ländern gegen geltendes Recht. Das ist das Ergebnis des internationalen Rechercheprojekts "Russian Spy Ships", an dem in Deutschland NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung beteiligt waren und für das mehr als 400 Fahrten von 72 russischen "Forschungsschiffen" seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ausgewertet wurden.
Auffällige Fahrten nahe kritischer Infrastruktur
Mindestens 60 Mal fuhren die Schiffe, meist mit abgeschaltetem Ortungssystem (AIS) so genannte "Kriechfahrten" durch die Nord -und Ostsee. Das sind extrem langsame Fahrten, mitunter mit auffälligem Zick-Zack-Muster. Bisweilen stoppten die Schiffe auch ganz und verharrten über mehrere Stunden an ein und derselben Stelle. Derartige Manöver fanden immer wieder in unmittelbarer Nähe zu kritischer Infrastruktur statt - wie etwa über Gaspipelines, Datenkabeln oder Windparks. Der Ausfall von kritischer Infrastruktur hätte erhebliche Folgen für das staatliche Gemeinwesen.
Zu den mutmaßlichen Aufklärungszielen der Schiffe zählten unter anderem ein U-Boot-Tauchgebiet der NATO ("Walkyrien"), die Gaspipeline Baltic-Connector und ein Datenkabel, das die dänische Insel Bornholm mit Polen verbindet. In der Nordsee bewegte sich ein "Forschungsschiff" über mehrere Stunden in unmittelbarer Nähe zur Gaspipeline Europipe. Diese führt von Norwegen in das niedersächsische Dornum und versorgt viele Millionen Haushalte mit Erdgas.
"Feindliche Objekte"
Dem Rechercheteam war es möglich, mit einem ehemaligen Matrosen des russischen Forschungsschiffes "Sibiryakov" zu sprechen. Der Quelle zufolge, die das erste Mal mit der Presse spricht, sollen die Schiffe kritische Infrastruktur genau vermessen: "alles was auf dem Meeresgrund auftaucht, egal ob Internetkabel oder Stromleitung, ist ein strategisches, feindliches Objekt. (…) Wenn man es im Falle eines Krieges zerstört, ist man im Vorteil. Die direkte Funktion der Forschungsschiffe ist es deshalb, den Meeresboden zu scannen und diese Informationen dem Militär bereitzustellen."
Die vermeintlichen Forschungsschiffe sind in der Regel mit sensibler Sonar- und Radartechnik ausgestattet. Manche Schiffe, darunter auch die "Gorigledzhan", verfügen zudem über Vorrichtungen, um U-Boote und Unterwasserdrohnen auszusetzen.
Sehr konkrete Gefahr
Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, zeigt sich aufgrund der zunehmenden Präsenz russischer Spionageschiffe in Nord- und Ostsee besorgt: "Wir halten die Gefahr für sehr konkret. Das ist nichts, was (…) uns in zehn oder 20 Jahren blüht, sondern das Tempo, mit dem Russland die Spannungen verschärft und auch seine eigenen Vorkehrungen beschleunigt, gegenüber dem Westen auch militärisch handlungsfähig zu sein, dieses Tempo gibt uns Anlass, diese Gefährdungen, Spionage und Sabotage sehr konkret zu betrachten", sagte Kahl in einem Interview mit NDR, WDR und SZ.
Russland hat in den vergangenen Jahrzehnten massiv in den Bereich der Unterwasser-Kriegsführung investiert. Dazu zählen die reguläre U-Boot-Flotte, jedoch auch Mini-U-Boote, die von größeren Schiffen unauffällig ausgesetzt werden können, sowie Unterwasserdrohnen und Taucher. Im Sinne einer "hybriden Kriegsführung" gerät dabei auch zivile Infrastruktur unter Wasser in den Fokus.
Besseres Lagebild schaffen
Es sei möglich, "großen Schaden anzurichten und unerkannt davon zu kommen", sagt Ex-General Hans-Werner Wiermann dem NDR-Magazin Panorama 3. Derzeit schätzen die Nord- und Ostseeanrainerstaaten die hybride Bedrohung durch Russland als so groß ein, dass Wiermann im vergangenen Jahr aus dem Ruhestand zurückbeordert wurde. Wiermanns Aufgabe war es, eine NATO-Zelle zum Schutz von Unterwasserinfrastruktur aufzubauen.
Vor allem geht es nun darum, ein besseres Lagebild zu schaffen, so dass verdächtige Schiffsbewegungen künftig nicht unentdeckt bleiben. Bisher ist es im Schadensfall äußerst schwierig herauszufinden, wer für ein zerstörtes Kabel oder eine zerrissene Pipeline die Verantwortung trägt. Das soll sich ändern. Aus Sicherheitskreisen der Nord- und Ostseeanrainerstaaten ist zu hören, dass geplant ist, wieder mehr Sensorik unter Wasser einzusetzen, wie das auch zu Zeiten des Kaltes Krieges üblich war. Auch private Betreiber von Infrastruktur auf dem Meer könnten verstärkt Daten über verdächtige Bewegungen auf und unter dem Meer zuliefern.
Fahrt durch U-Boot-Tauchgebiet der NATO
Wie schwierig das konkrete Vorgehen gegen die russischen Spionageaktivitäten ist, zeigt der Fall der "Gorigledzhan", die im Oktober 2023 vor Rügen aufgetaucht ist. Recherchen von NDR, WDR und SZ belegen, dass das Schiff zwar tatsächlich den deutschen Windpark verlassen hat, nach dem es von der Bundespolizei dazu aufgefordert wurde. Schließlich handelt es sich bei Windparks um rechtlich besonders geschützte Gebiete.
Anschließend fuhr das Schiff jedoch in ein U-Boot-Tauchgebiet der NATO, das in der dänischen Außenwirtschaftszone liegt. Dort fuhr es über Stunden hinweg auffällige Zick-Zack-Muster. Auf Nachfrage der Bundespolizei, weshalb sich das Schiff dort aufhalte, gab der Kapitän des russischen Schiffes an, "auf besseres Wetter zu warten". Aus Sicherheitskreisen heißt es, Ziel der Aktion könnte das Sammeln akustischer Informationen über NATO-U-Boote gewesen sein. Ob sich zu dem Zeitpunkt tatsächlich U-Boote in dem Tauchgebiet befanden, wollte die NATO auf Nachfrage nicht beantworten. Russische Behörden ließen eine Anfrage unbeantwortet.
Die derzeitige Rechtslage macht es den Anrainerstaaten schwer, gegen diese Form der Spionage vorzugehen. Ein Mittel für deutsche Behörden ist es, vor der deutschen Küste mit eigenen Schiffen, Präsenz zu zeigen und die russischen Schiffe zu begleiten. Aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Frage des CDU-Abgeordneten Roderich Kiesewetter geht hervor: Seit Beginn des Jahres 2023 hat die deutsche Bundespolizei in 102 Fällen russische Schiffe eskortiert, in fünf Fällen geschah dies durch Einheiten der Marine.
Seerecht "robuster durchsetzen"
Das Rechercheprojekt "Russian Spy-Ships" zeigt, dass sich russische Spionageschiffe tatsächlich insbesondere in den Außschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) der betroffenen Länder bewegen. Dort haben Länder in begrenztem Umfang Hoheitsbefugnisse, haben aber das alleinige Recht, Ressourcen auszubeuten. Verdächtige Fahrten fanden demnach unter anderem vor den Küsten von Dänemark (16), Estland (11), Norwegen (8), dem Vereinigten Königreich (9), den Niederlanden (8), Finnland (7) und Deutschlands (3) statt.
In einigen Fällen drangen die Schiffe auch in das Küstenmeer der jeweiligen Staaten ein, wo Spionage-Tätigkeiten verboten sind. Der renommierte Seerechtler Wolff Heintschel von Heinegg forderte angesichts der Rechercheergebnisse, das internationale Seerecht "robuster durchzusetzen". Zudem sei es ratsam, dass sich Europa Gedanken darüber mache, die kritische Infrastruktur auch in weiter von der Küste entfernten Außenwirtschaftszonen rechtlich besser abzusichern.
Für das Rechercheprojekt "Russian Spy Ships" hat das internationale Rechercheteam Morsesignale, AIS-Signale und Satelliten-Bilder ausgewertet. Die Schiffspositionen konnten teilweise über "Wetterberichte" rekonstruiert werden, die russische Militärschiffe als Morsesignale senden. Insgesamt hat das Team mehr als 1.000 solcher Signale dekodiert und ausgewertet. Die Richtigkeit der so übermittelten Schiffspositionen konnte das Team in Einzelfällen gegenprüfen: Etwa durch Satelliten-Aufnahmen, durch In-Augenschein-Name vor Ort und durch den Abgleich mit Quellen aus Sicherheitskreisen belegt werden. An dem Rechercheprojekt waren Journalistinnen und Journalisten von Pointer (Niederlande), VRT (Belgien), ERR (Estland), NRK (Norwegen) und Yle (Finnland) beteiligt. In Deutschland wurden die Recherchen von NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung durchgeführt. Unterstützt wurde das Projekt von Dossier Center, Marineschepen, Marine Traffic, Vake sowie von BBC, DR und SVT.
Der Film "Putins Flotte - Russische Spionage in der Ostsee" ist in der ARD-Mediathek abrufbar.