Einsatz im Al-Schifa-Hospital Wann verliert eine Klinik den Schutz des Völkerrechts?
Zivile Objekte stehen im Krieg unter dem Schutz des Völkerrechts. Doch das gilt nicht immer, erläutert Experte Safferling. Wann Krankenhäuser ihren Schutz verlieren - und wann Einsätze gegen sie abgebrochen werden müssen.
tagesschau.de: Deckt das humanitäre Völkerrecht militärische Einsätze gegen Kliniken?
Christoph Safferling: Generell sind Krankenhäuser - wie auch Schulen oder religiöse Einrichtungen - zivile Objekte, die als solche nicht Gegenstand von militärischen Angriffen sein können. Allerdings ist dieser Schutz des humanitären Völkerrechts nicht absolut. Auch grundsätzlich zivile Objekte können zu militärischen werden, wenn sie denn militärisch genutzt werden und wenn ihre Bekämpfung oder Zerstörung einen eindeutigen militärischen Vorteil brächte.
Wenn also in einem Krankenhaus entsprechende militärische Operationen geplant oder von dort aus durchgeführt werden, wenn sich dort Kämpfer verstecken, Waffen und Munition gehortet werden, dann ist dieses Krankenhaus tatsächlich kein ziviles Objekt mehr, sondern ein militärisches Objekt. Und damit nach dem humanitären Völkerrecht ein Ziel, das bekämpft werden kann.
Militärischer Vorteil muss "eindeutig" sein
tagesschau.de: Wir können von Deutschland aus nicht verlässlich beurteilen, was derzeit in dem Al-Schifa-Krankenhaus vorgeht. Die israelischen Streitkräfte melden, man habe in der Klinik Waffen gefunden. Wäre ein solcher Fund im Sinne des Völkerrechts hinreichend für den Verlust des Schutzrechtes?
Safferling: Er wäre ein Indiz dafür. Es muss klar sein, dass die Bekämpfung dieses grundsätzlich zivilen Krankenhauses einen eindeutigen militärischen Vorteil brächte. Man müsste also schon mehr als ein paar Gewehre finden, damit das Krankenhaus tatsächlich seinen kompletten Schutz verliert. Es muss schon eine eindeutige militärische Nutzung des Krankenhauses sein.
tagesschau.de: Ob es eine eindeutige militärische Nutzung gibt, stellt sich möglicherweise erst im Zuge eines Einsatzes heraus.
Safferling: Hier geht es darum, eine aus vorheriger Sicht getroffene Entscheidung ständig zu überprüfen, auch während ein Angriff durchgeführt wird. Man muss die Situation ständig neu bewerten und sich überlegen, ob es sich jetzt immer noch um ein bekämpfbares militärisches Ziel handelt.
"Keine unverhältnismäßigen Kollateralschäden"
tagesschau.de: Bedeutet das, dass im Sinne des Völkerrechts ein Angriff abgebrochen werden muss, wenn sich während des Einsatzes selbst herausstellt, dass sich die Informationen nicht bestätigen, die man im Vorhinein hatte?
Safferling: Wenn es Erkenntnis dahingehend gibt, dass die Information, die man ex ante, also im Vorhinein hatte, sich nicht bewahrheiten, dann kann das Völkerrecht verlangen, dass der Einsatz abgebrochen wird.
Und um das Ganze jetzt noch zu verkomplizieren: Ein militärisches Ziel kann nur dann bekämpft werden, wenn von vornherein festgestellt wird, dass der militärische Nutzen im Vergleich zu den zu erwartenden zivilen Opfern eindeutig größer ist. Hier geht es um den Begriff der Kollateralschäden. Wenn unverhältnismäßige Kollateralschäden zu erwarten sind, dann darf das militärische Ziel nicht bekämpft werden.
tagesschau.de: Selbst wenn es Hinweise darauf gibt, dass die Klinik an sich ihre Schutzfunktion verloren hat?
Safferling: Es ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Je höher der militärische Nutzen, desto mehr zivile Opfer können in Kauf genommen werden.
Das ist eine immens schwierige Rechnung. In ihr ist der Schutz der zivilen Opfer schon deutlich reduziert. Das ist ein Zugeständnis an eine handfeste Kriegssituation, auch wenn im humanitären Völkerrecht der Schutz der Zivilbevölkerung an oberster Stelle steht. Auch das muss aber ständig überprüft werden.
"Entscheidungen müssen dokumentiert werden"
tagesschau.de: Vieles wird sicher erst im Nachhinein geklärt werden können. Wie aber will man überprüfen, ob das Völkerrecht beachtet wurde?
Safferling: Zum einen ist es wichtig, ständig darauf hinzuweisen, dass es diese Regeln des Völkerrechts gibt und dass sie eingehalten werden müssen. Und es muss ständig darauf geachtet werden, dass sie eingehalten werden. Schützt die Zivilbevölkerung so gut wie möglich!
Nach Beendigung des Krieges wird man mit strafrechtlichen Mitteln prüfen, ob gemäß dem Völkerrecht gehandelt wurde oder ob es zu Kriegsverbrechen gekommen ist. Das setzt voraus, dass man Beweis gegen individuelle Personen führen kann, gegen Kommandeure, die den Einsatz befohlen haben oder auch gegen einzelne Soldaten, die an den Kriegshandlungen mitgewirkt haben. Insofern müssen die Informationen und Entscheidungen im Befehlsstand dokumentiert werden.
Es müssen auch umfangreiche forensische Ermittlungen durchgeführt werden, um die Lage im Nachhinein rekonstruieren zu können. Nach rechtsstaatlichen Anforderungen kann nur der bestraft werden, dessen Schuld eindeutig festgestellt werden kann.
Demokratische Armee gegen Terrororganisation
tagesschau.de: Man kann und muss den Blickwinkel auch wenden. Ist es ein Kriegsverbrechen und ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, eine Klinik für militärische Zwecke zu nutzen?
Safferling: Da sind wir bei den abstrakten Regeln auf sicherem Terrain. Das Nehmen von Geiseln, das Entführen von Geiseln, das Verwenden von Zivilpersonen als Schutzschilder sind ganz klar Kriegsverbrechen. Und man muss in diesem Krieg die Situation klar rücken: Die israelische Armee ist eine demokratische Armee eines Rechtsstaats, die sich um die Einhaltung des humanitären völkerrechtlichen Rahmens bemüht und ihre Soldatinnen und Soldaten entsprechend schult.
Der Gegner ist die Hamas, eine terroristische Organisation, die sich nicht um das Völkerrecht schert und offensichtlich hier, soweit wir sehen, durch Geiselnahme und die Verwendung von Menschen als Schutzschilder Kriegsverbrechen begeht. So sind die Verhältnisse.
tagesschau.de: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang, dass es sich um einen Einsatz der Selbstverteidigung handelt?
Safferling: Das ist der große Rahmen, der aber in der Betrachtung der einzelnen kriegerischen Handlungen nicht die entscheidende Rolle spielt. Beide Seiten sind an die gleichen Regeln gebunden, unabhängig davon, wer den bewaffneten Konflikt begonnen hat oder wer sich verteidigt. Das ist die Grundbedingung des humanitären Völkerrechts.
Die Regeln gelten für alle gleich, egal ob sie legitim zu den Waffen gegriffen haben oder nicht, ob sie der Angreifer oder der Verteidiger sind.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de