Wie eine Jesidin ihre Peiniger ausgetrickst hat Die Geschichte einer Flucht vor dem IS
Anfang August 2014 hat der IS jesidische Dörfer im Nordirak überfallen. Tausende Frauen wurden damals verschleppt, verkauft und misshandelt. Esther Saoub hat eine von ihnen getroffen, die es geschafft hat, die Schergen des IS auszutricksen.
"Nenn mich Sarah", sagt die junge Frau, die nicht erkannt werden will. Und dann beginnt sie zu erzählen: Erst wurden die Männer weggebracht, dann die Frauen und Kinder. Die IS-Kämpfer trieben sie in eine Schule und dort sortierten sie: Mädchen unten, verheiratete Frauen in den oberen Stock. "Ich habe meinen Neffen auf den Arm genommen und behauptet, er sei mein Sohn. Schwör bei Gott, dass du verheiratet bist, sagte der IS-Mann. Er war aus Saudi-Arabien, das sah man an der Kleidung. Ich habe es wiederholt: Ich bin verheiratet, meinen Mann habt ihr mitgenommen".
Der falsche Schwur fällt ihr leicht, denn der selbsternannte Gotteskrieger hat einen anderen Gott als sie. Sarah gehört der uralten Religion der Jesiden an, die im Laufe ihrer Geschichte immer wieder verfolgt worden sind.
"Kannst du erzählen, was weiter geschah?" frage ich, denn Sarah leidet an einem Kriegstrauma. "Natürlich kann ich es dir erzählen", antwortet die schlanke, dunkelhaarige Frau, "die Bilder von damals begegnen mir jeden Tag. Es ist normal geworden".
"Nach kurzer Zeit habe ich Schüsse gehört"
Sarah wurde zu den verheirateten Frauen geschickt, gemeinsam mit ihrer Mutter und zwei Schwestern. Die jüngste Schwester verschwindet mit den unverheirateten Mädchen - sie wird sie erst ein Dreivierteljahr später wiedersehen. Am nächsten Morgen werden die älteren Frauen abgeholt, auch Sarahs Mutter. "Wusstest du, wohin?", frage ich. "Nein, aber nach kurzer Zeit habe ich Schüsse gehört".
Am selben Abend wird Sarah mit den verheirateten Frauen weggebracht. In die Stadt Tal Afar. Dort treffen sie andere Jesidinnen, zusammengedrängt in einer Schule - 80 Frauen und Kinder in einem kleinen Raum. Immer wieder kommen die bärtigen Kämpfer und suchen sich Frauen aus. Sarah macht sich so unattraktiv wie möglich.
Ihre Rettung ist die Verkleidung
"Ich war zweieinhalb Monate in den Händen des IS. In der ganzen Zeit habe ich mich nicht gewaschen. Ich habe mir Ruß ins Gesicht geschmiert und mir mit einer Nadel die Gesichtshaut verletzt, damit sie sich entzündet. Ich habe behauptet, ich sei 38 Jahre alt".
Der Trick funktioniert - die Männer ignorieren die 25-Jährige und den vierjährigen Neffen, der ihr nicht von der Seite weicht. Sie hat noch ein Foto von damals, gebeugt, in wild gemusterten, schmuddeligen Kleidern, mit dem Kind an der Hand. Keine Ähnlichkeit mit der selbstbewussten, attraktiven jungen Frau, die jetzt vor mir sitzt.
Im Sommer zwingt der Vormarsch der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Nordirak Zehntausende Jesiden zur Flucht in die Sindschar-Berge, wo sie praktisch von jeder Versorgung abgeschnitten sind.
Immer wieder werden die Frauen von den IS-Männern durchsucht auf Wertsachen und Mobiltelefone. Die strenge Geschlechtertrennung des sogenannten Islamischen Staates spielt hier offenbar keine Rolle. Sarah schafft es jedes Mal, ihr Handy zu verstecken. Mal im BH, mal in der Unterhose, erzählt sie lachend.
"Ich hab es auch in die Windel meines Neffen gesteckt, oder in ein Stück Brot". Es ist erstaunlich, dass Sarah und ihre Schwestern heute darüber lachen können. Damals hat sich Sarah in große Gefahr gebracht - wäre das Handy gefunden worden, hätte man sie nach Syrien verschleppt.
Sie könnte immer die Nächste sein
Doch die zweite Gefahr bleibt bestehen: Immer wieder kommen Kämpfer, um Frauen zu verschleppen - zu "heiraten", wie sie das nennen.
"Einmal kamen viele IS Kämpfer in den Ort. Sie haben uns auf dem Dorfplatz versammelt und wieder Frauen ausgesucht - auch meine Schwester. Als sie zu mir kamen, habe ich die Augen verdreht als würde ich schielen. Mein Neffe hatte Schnupfen, den habe ich mir auf die Kleider geschmiert. Die ist dreckig, haben sie gesagt, und mich sitzen gelassen".
Aber Sarah weiß, dass sie die Nächste sein könnte. Deshalb beschließt sie, zu fliehen. Ihre Schwestern und Cousinen muss sie überreden, die Frauen sind wie gelähmt vor Angst. In einer Nacht im Oktober brechen sie schließlich auf, 16 Frauen und Kinder. Sarah hat eine Zange, mit der sie den Zaun aufschneidet, den die IS-Kämpfer ums Dorf gezogen haben. Sie watet als erste durch den Wassergraben, den die Terroristen gegraben haben - bis zur Brust steht sie im Wasser und hebt die Kinder ans andere Ufer.
Zehn Stunden laufen sie durch die Dunkelheit, immer auf die Lichter einer Zementfabrik zu, irgendwo dahinter liegt die Grenze zum Kurdengebiet. In der folgenden Nacht ruft sie ihren Schwager an. "Es war stockdunkel. Er hat uns dann eine Richtung genannt, in die wir laufen sollen". Sie laufen in die falsche Richtung und stehen plötzlich wieder vor Tal Afar, dem Ort, aus dem sie geflohen sind. Sarah telefoniert wieder, das Handy hat kaum noch Akku. Ein Verwandter zündet auf dem Berg ein Feuer an, um ihnen den Weg zu weisen. Nach vier Tagen schließlich sind sie in Sicherheit.
In Deutschland ist jetzt die Familie
Da sitzen sie, die drei Schwestern. Zwei konnten fliehen, haben vier Tage lang Kinder durch die Wüste getragen, die jüngste - damals 17 - haben die IS-Kämpfer mitgenommen und misshandelt. Erst nach zehn Monaten ist auch sie geflohen.
Seit einem Jahr leben sie nun in der kleinen Wohnung in Baden-Württemberg. Sie lernen Deutsch, die Jüngste will eine Ausbildung machen. Ob sie sich sicher fühlten, frage ich. "Im Irak wusste ich, woher die IS-Leute kommen. Hier könnten sie überall sein", sagt die Jüngste. Aber trotzdem sei es in Deutschland jetzt besser als im Irak, fügt Sarah hinzu. Denn hier ist schließlich die Familie.
Jedenfalls diejenigen, die das Grauen überlebt haben.