Zwei Männer umarmen sich neben durch den Luftangriff zerstörten Notunterkünften in Rafah.
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Israels Kriegsführung Mit dem Rücken zur Wand

Stand: 28.05.2024 19:42 Uhr

Israel hat das Recht, sich gegen die Hamas-Terroristen zu verteidigen. Doch Rafah ist ein weiterer Mosaikstein einer Kriegsführung, die zu viele Opfer in Kauf nimmt.

Ein Kommentar von Julio Segador, ARD Tel Aviv

Schon einmal gab es eine verunglückte israelische Militäraktion mit vielen Toten, die erst für einen Waffenstillstand und dann für einen - wenn auch fragilen - Frieden sorgte: 1996 im Konflikt mit dem Libanon, bei der Operation "Trauben des Zorns".

Israelischer Artilleriebeschuss traf damals in Qana im Libanon ein UN-Gelände, das voller Flüchtlinge war. 106 Menschen starben. Der darauf folgende intensive diplomatische Druck bewog Israel die Militäroperation gegen die Hisbollah und damit auch den Krieg im Libanon zu beenden.

Wer machte den fatalen Fehler?

Rafah könnte dies ebenfalls bewirken. Man kann es nur hoffen, so traurig der Vorfall auch ist. Die Bombardierung einer Hamas-Kommandozentrale, bei der nach israelischen Militärangaben zwei Terroristen getötet wurden, hatte zur Folge, dass Dutzende unschuldige Menschen starben.

Israels Premierminister Benjamin Netanyahu spricht von einem tragischen Fehler. Er verschweigt aber, worin der Fehler bestand. Wurde das falsche Ziel ausgewählt? Waren die Geheimdienstinformationen doch nicht so präzise wie das israelische Militär vorgibt? Und wer hat den Fehler begangen? Wer übernimmt die Verantwortung?

Wenig durchdacht

Rafah ist ein weiterer Mosaikstein einer katastrophalen Kriegsführung, ein weiterer Beleg, wie wenig durchdacht die israelische Militäroperation war und ist. Und das ist sie, wenn Flüchtlinge, die durch den Krieg ohnehin schon alles verloren haben, zu Schaden kommen.

Ja, Israel wurde am 7. Oktober 2023 brutal, menschenverachtend angegriffen. Diese Terrorattacke hat das Land und seine Menschen tief in der Seele getroffen. Und ja, Israel hat das Recht, sich gegen die Hamas-Terroristen zu verteidigen. Doch dieser Krieg hat diese Rechtfertigung längst hinter sich gelassen.

Eine politischen Führung, die auf jegliche Diplomatie verzichtet

Aus der Zerschlagung der Hamas wird immer mehr die Zerstörung eines Lebensraumes von zwei Millionen Palästinensern, mit immer mehr zivilen Todesopfern. Verbündeten wie Deutschland oder die USA fällt es zunehmend schwer, an der Seite Israels zu stehen. Und immer mehr Länder erkennen Palästina als Staat an - was Israel unbedingt verhindern wollte.

Israel steht mit dem Rücken zur Wand. Das ist das Ergebnis einer völlig verfehlten Kriegsführung, die zu viele Opfer in Kauf nimmt. Es ist das Ergebnis einer politischen Führung, die auf jegliche Diplomatie verzichtet, und der das eigene Schicksal scheinbar wichtiger ist als das Wohl des Landes. Das zeigt sich auch an der immensen innenpolitischen Polarisierung. Kaum ein Tag, an dem nicht gegen Netanyahu demonstriert wird.

Ihn lässt dies scheinbar unberührt - wohl wissend: Nach Ende des Krieges dürften seine Tage als politischer Lenker Israels gezählt sein. Dafür nimmt er in Kauf, dass ein ganzes Land mit dem Rücken zur Wand steht.

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