Akte mit dem Namen des Angeklagten Vadim K.
Kommentar

"Tiergartenmord"-Prozess So geht Rechtsstaat

Stand: 15.12.2021 15:18 Uhr

Die russische Regierung bewertet das Urteil im "Tiergartenmord"-Prozess als politisch motiviert. Doch das Verfahren zeigt, wie ein Rechtsstaat funktioniert, aber auch, wo er an Grenzen kommt.

Ein Kommentar von Silvia Stöber

Es sei naiv, auf Unabhängigkeit und Objektivität der deutschen Justiz zu hoffen. Es bestehe kein Zweifel, dass die Tat dem russischen Staat zugeschrieben werde - so urteilte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, bereits zu Beginn des "Tiergartenmord"-Prozesses im Oktober 2020.

Doch so war es eben nicht. Der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi legte in seinem Urteil ausführlich dar, wie die Ermittler vorgegangen sind, wie sie die Persönlichkeit des Opfers und des Täters aufgeklärt haben. Während der 56 Verhandlungstage sagten 47 Zeugen und zehn Sachverständige aus, und es wurden unzählige Beweismittel vorgelegt.

Dem Angeklagten, dem russischen Staatsbürger Vadim Krasikov, standen die Möglichkeiten des Rechtsstaates offen. Zwei Pflichtverteidiger und ein Wahlverteidiger vertraten ihn vor dem Kammergericht Berlin. Richter Arnoldi wies den Angeklagten immer wieder auf sein Recht hin, sich zu äußern und Beweismittel einzubringen.

"Erdrückende Beweislast"

Die Anklage stimmte mit der Verteidigung überein, dass Aussagen des Beschuldigten gegenüber Ermittlungsbeamten nicht zu seinem Nachteil verwendet werden dürfen, weil die Umstände ihres Zustandekommens nicht vollständig geklärt werden konnten. Dabei hatte der Beschuldigte durchaus Täterwissen erkennen lassen.

Der Richter erklärte zudem, dass die von der Rechercheorganisation Bellingcat vorgelegten Metadaten von Mobiltelefonen keine ausreichende Beweiskraft haben. Das treffe auch für die Daten jener Quellen Bellingcats zu, deren Identität aus Schutzgründen nicht offengelegt werden konnte. Für das Urteil seien nur Erkenntnisse genutzt worden, die durch Erkenntnisse der Ermittlungsbehörden gestützt würden oder die unabhängig aufgeklärt worden seien.

Arnoldi sprach von einer "erdrückenden Beweislast", die Aspekte des Urteils sind durch mehrere Indizien und Beweismittel begründet. Insbesondere die professionelle Vorbereitung zur Verschleierung der Tat habe die russische Zentralregierung als Auftraggeber und Urheberin der Tat verraten, der Angeklagte sei Teil des russischen Sicherheitsapparates, stellte Arnoldi heraus.

Grenzen des Rechtsstaates

Doch das Verfahren zeigte auch die Grenzen des Rechtsstaates auf, und zwar an Stellen, wo die Ermittler auf Kooperation mit anderen Staaten angewiesen waren. Das betrifft vor allem Russland selbst. Dessen Präsident Wladimir Putin sprach vom Opfer als einem "Terroristen" und "Banditen". Doch Beweise legten die russischen Behörden nicht vor, es gab auch kein Auslieferungsersuchen.

Auf zwei Rechtshilfeersuchen der deutschen Behörden hin lieferten die russischen Behörden teils keine, teils verschiedene Angaben - nichts, was der Aufklärung der Tat gedient hätte, aber auch nichts, was dem Angeklagten hätte helfen können.

Wo der russische Staat Kooperation verweigerte, sprangen Journalisten ein und lieferten wertvolle Indizien. Dafür gingen die Journalisten und Informationsgeber hohe Risiken ein. Drei Informanten wurden in Russland in Zusammenhang mit den Recherchen festgenommen. Der Journalist Roman Dobrochotow musste Russland verlassen.

Keine Sicherheit vor "Staatsterrorismus"

Zwar sagten Dobrochotow und weitere Zeugen unter hohen Sicherheitsvorkehrungen aus. Doch nach ihrer Vernehmung wurden sie in die Unsicherheit entlassen. Sie werden nun lebenslang mit dem Risiko vor Vergeltung leben müssen, was insbesondere für einen Zeugen aus der Ostukraine zutrifft.

Niemand ist sicher vor dem russischen Staat, auch nach Jahren nicht. Dieses Signal sollte vom Mord im Kleinen Tiergarten ausgehen, waren Anklage und Richter überzeugt. Staatliche Stellen in Russland waren in der Lage, unerkannt einen Mord in Deutschland vorzubereiten und mit der Tat die Souveränität und das Gewaltmonopol der Bundesrepublik infrage zu stellen.

Bis heute sind viele wichtige Aspekte ungeklärt: Wie gelangte der Täter von Warschau zum Tatort? Welche in Berlin stationierten Personen spionierten das Opfer aus und halfen dem Täter bei der Ausführung des Mordes?

Die Bundesregierung muss handeln

Es sei nicht anderes als Staatsterrorismus, sagte Richter Arnoldi und gab der Politik damit implizit einen Auftrag für eine klare Antwort an die russische Führung. Über mögliche Sanktionen hinaus muss die Tätigkeit russischer Geheimdienste in Deutschland aufgeklärt und Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien konsequent geahndet werden.

Visa-Regeln müssen verschärft und streng angewandt werden - der Täter konnte mit einem Reisepass ohne biometrische Merkmale und komplett gefälschte Angaben zu seiner Person in die EU einreisen und sich unbehelligt bewegen.

Es darf nicht möglich sein, dass russische Agenten mitten am Tag in einem belebten Park Vergeltung üben und damit unbeteiligte Menschen gefährden und traumatisieren.

Nicht zuletzt sollte das Urteil ein Signal an die Behörden für den Umgang mit Menschen sein, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung suchen. Der Asylantrag und eine Klage gegen die Ablehnung von Zelimkhan Khangoshvili wurden abgewiesen mit der Aussage, er sei keiner politischen Verfolgung ausgesetzt.

Bewusst machen sollte sich die Politik auch die historische Dimension des Gerichtsprozesses, auf die ein russischer Geheimdienstexperte hinwies: Seit den 1950er-Jahren wurde kein russischer Agent mehr in Person für ein Tötungsdelikt vor Gericht in einem westlichen Land gestellt. Es zeige, dass sich seitdem nicht viel geändert habe.

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 15. Dezember 2021 um 12:00 Uhr.