Ein Ventilator steht in einem Büro (Archivbild).
interview

VDBW-Vizepräsidentin "Siesta flächendeckend nicht realistisch"

Stand: 18.07.2023 15:37 Uhr

Angesichts häufigerer Hitzewellen regen Amtsärzte in Deutschland eine Siesta wie in südeuropäischen Ländern an. Die Vizepräsidentin des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte, Annette Wahl-Wachendorf, sieht das kritisch.

tagesschau.de: Siesta in den Sommermonaten nach südeuropäischem Vorbild - was halten Sie als Betriebsärztin davon?

Annette Wahl-Wachendorf: Ich habe selbst zwei Jahre im Schichtdienst gearbeitet - mit drei Stunden Pause, bevor es dann weiterging. Das hat mir nicht gutgetan. Von meiner persönlichen Erfahrung abgesehen, halte ich aber grundsätzlich nichts von Pauschalisierungen, weil Pauschalisierungen nie zielführend sind.

Darüber hinaus gibt es in Deutschland das Instrument der Gefährdungsbeurteilung, aus welchem Arbeitsschutzmaßnahmen abgeleitet werden. Außerdem gilt das Stop-Prinzip als festgelegte Reihenfolge von Schutzmaßnahmen - etwa technische Schutzmaßnahmen, organisatorische und persönliche. Eine Siesta ist flächendeckend nicht sinnvoll beziehungsweise realistisch und im Sinne der Betroffenen.

Anette Wahl-Wachendorf
Zur Person
Anette Wahl-Wachendorf ist Ärztin für Arbeitsmedizin. Seit 2019 ist sie ärztliche Direktorin des Arbeitsmedizinisch-Sicherheitstechnischen Dienstes der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft und seit 2011 Vizepräsidentin des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte.

"Verständnis für Gesundheit weiter schärfen"

tagesschau.de: Welche Maßnahmen sehen Sie als Alternative zur Siesta?

Wahl-Wachendorf: Wir raten grundsätzlich zu Abschattungsmassnahmen und  Kühlung. Wir sehen, dass solche Maßnahmen inzwischen auch deutlich besser umgesetzt werden. Es gibt eine Fülle von Maßnahmen, die auch bei großer Hitze greifen. Wir raten zu Arbeitszeitverlagerung in den frühen Morgen hinein. Abschattung ist an vielen Arbeitsplätzen wichtig, zum Beispiel in der Landwirtschaft. Prozesse und Aufgaben sollten so gut es geht verlagert werden.

Die Regierung arbeitet an bundesweiten Hitzeschutzplänen. Hier ist Frankreich Vorreiter. Dennoch müssen wir das Verständnis bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern weiter schärfen, sich um die Gesundheit zu kümmern. Mit dem Fachkräftemangel haben Arbeitnehmer hier eine starke Power, und das ist den Arbeitgebern auch immer stärker bewusst.

tagesschau.de: Die Hitze hat in den verschiedensten Branchen unterschiedliche Auswirkungen, erfordert unterschiedliche Maßnahmen. Wo sind denn Maßnahmen zum Hitzeschutz besonders wichtig?

Wahl-Wachendorf: In der Bauwirtschaft, in der Landwirtschaft und in der Logistik bis hin zu Post- und Paketdienstleistern gibt es Schutzmaßnahmen wie etwa einen Kopf- und Nackenschutz. Die BG Bau ist hier Vorbild mit einem breiten Angebot. Darüber hinaus gibt es individuelle Beratungen in allen Branchen. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass viele Menschen in besonderen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Auch sie brauchen Beratung und Unterstützung.

tagesschau.de: Ist gerade für Zeitarbeiter, also die Menschen in besonderen Beschäftigungsverhältnissen, ausreichend Schutz gegeben?

Wahl-Wachendorf: Ja, die Entleiher sind hier in der gleichen Pflicht wie alle Arbeitgeber.

"Noch Luft nach oben"

tagesschau.de: Wenn Unternehmen den Siesta-Vorschlag nun aufgreifen und umsetzen wollen: Wie könnte das praktikabel gelingen?

Wahl-Wachendorf: Wir empfehlen, die Betriebsräte zu beteiligen und in einem Abstimmungsprozess organisatorische Massnahmen bei den Anforderungen der Unternehmen und Bedürfnissen der Beschäftigten abzuwägen. Bei kleineren Unternehmen können individuelle Beratungen besonders unterstützen.

Einigen Beschäftigten ist es beispielsweise wichtig, früh nach Hause kommen zu können, um die Kinder zu betreuen, hier ist eine Siesta Unterbrechung eher nicht gewünscht. Auch das will berücksichtigt werden. Es geht darum, Arbeitsabläufe zu organisieren, ohne die Produktivität zu vernachlässigen und dabei aber die persönlichen Bedürfnisse zu berücksichtigen.

tagesschau.de: Wo wäre denn eine sinnvolle Grenze für Temperaturen oder Monate, in denen eine Siesta umgesetzt werden könnte?

Wahl-Wachendorf: Ich halte eine flächendeckende Begrenzung für schwierig, weil sie an vielen Arbeitsstätten nicht realistisch ist. Viel wichtiger ist, dass Menschen an besonders betroffenen Arbeitsplätzen geschützt werden, und dass Menschen mit Vorerkrankungen von uns Betriebsärzten beraten und ihre Arbeitsplätze gegebenenfalls angepasst werden. Organisatorisch ist da oft noch Luft nach oben, da muss man kritisch reflektieren.

Das Interview führte Antje Erhard, ARD-Finanzredaktion, für tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 18. Juli 2023 um 17:41 Uhr.