Christine Lagarde
interview

Zentralbankchefin Lagarde im Interview "Wir haben gezeigt, dass die EZB krisenfest ist"

Stand: 24.05.2023 16:09 Uhr

Die EZB musste schon durch viele Krisen manövrieren - und gehört zu den mächtigsten Notenbanken der Welt. Im tagesschau.de-Interview geht Zentralbankchefin Christine Lagarde auf Kritiker ein, die eine zu große Aufgabenfülle sehen.

tagesschau.de: Frau Lagarde, die Europäische Zentralbank feiert ihr 25-jähriges Bestehen. Sie sind seit etwa dreieinhalb Jahren Präsidentin dieser Institution. Aus Ihrer Sicht: Was sind die großen Erfolge der EZB, was lief schief?

Christine Lagarde: Ich schaue unter drei Gesichtspunkten auf den Erfolg und die möglichen Fehler der EZB: Erstens: Was waren die ursprünglichen Ziele? Zweitens: Wer sind die Kunden und sind sie zufrieden? Und drittens: Sind wir gut aufgestellt für die Zukunft?

Wenn ich auf die Ziele schaue, so glaube ich, die Gründerväter in den damals nur elf Mitgliedsstaaten wollten eine Währungsunion, die gemäß unserem Mandat stabil ist, die uns stärker macht und die uns zusammenführt. Das waren die ursprünglichen Ziele.

Sind wir stabil? Vor der Währungsunion hatten wir in den Ländern viele Abwertungen der einzelnen Währungen, es war eine sehr bewegte Geschichte. Wenn ich auf die letzten 25 Jahre schaue mit all ihren Höhen und Tiefen, dann haben wir im Durchschnitt eine Inflationsrate von 2,05 Prozent geliefert, was recht bemerkenswert ist. Ich bin nicht glücklich mit der jetzigen hohen Inflation. Aber die 2,05 Prozent waren der Durchschnitt.

EZB - 25 Jahre im Dienst des Euro

Klaus-Rainer Jackisch, HR, tagesthemen, 24.05.2023 22:15 Uhr

Sind wir stärker geworden? Ja. Der Euro ist nach dem US-Dollar die zweitwichtigste Währung der Welt. Während der letzten großen Krise, der Pandemie, hat der Euro nur ein bisschen abgewertet, verglichen mit dem japanischen Yen und dem britischen Pfund.

Und sind wir zusammen geblieben? Ja, 25 Jahre lang entgegen vielerlei Voraussagen, die es damals gab. Ich denke, gemessen an diesen drei Maßstäben haben wir geliefert.

Der zweite Aspekt sind die Kunden - sind sie zufrieden? Die Kunden sind die 346 Millionen Europäer, denen der Euro gehört. Es ist ihr Euro, wir sind nur die Hüter der Währung. In der letzten Umfrage haben 79 Prozent der Befragten gesagt, sie vertrauten dem Euro.

Und schließlich der dritte Punkt, die Zukunft: Ich denke, wir haben gezeigt, dass die EZB und das Eurosystem als Ganzes - einschließlich der Bundesbank - krisenfest sind. Wir sind durch so viele Krisen gegangen und haben die notwendigen Werkzeuge gefunden und es geschafft, die Währung stabil zu halten. Auch schauen wir auf die Zukunft durch digitale Augen. Die Europäer können in allen Mitgliedsstaaten mit derselben Währung in bar, verschiedenen Zahlungsmitteln und vermutlich schon bald mit dem digitalen Euro bezahlen, denn wir müssen auf die Zukunft vorbereitet sein.

Fazit: Unter dem Strich haben wir geliefert und unser Mandat erfüllt, unseren Eigentümern, also den Europäern, gedient und uns auf die Zukunft gut vorbereitet.    

Inflationsbekämpfung als oberstes Ziel

tagesschau.de: Das waren sehr schwierige Jahre. Im Prinzip ist die Eurozone im vergangenen Jahrzehnt von einer Krise in die nächste geschlittert. Das hat die Rolle der EZB verändert - von einer Institution, die Preisstabilität sichern soll, zu einer Institution, in der Ihr Vorgänger die Währungsunion retten musste. Inwiefern hat dies das Fundament der EZB verändert?

Lagarde: Ich denke, das Fundament der Institution ist der EU-Vertrag, die gesetzliche Basis, auf der wir entstanden sind. Das ist das Fundament des Euro und ganz gewiss auch der Europäischen Zentralbank. Wir müssen uns an diese Regeln halten.

Das Durchleben einer Krise nach der anderen - von der großen Finanzkrise zur Schuldenkrise, zur Pandemie und dann zur Energie-Krise - hat uns meiner Meinung nach gestärkt. Wir mussten Werkzeuge entwickeln, mit denen wir uns an eine Welt sehr niedriger Inflation angepasst und mögliche Deflation bekämpft haben und jetzt eine schon viel zu lang anhaltende hohe Inflation bekämpfen.

Nietzsche hat gesagt: "Was Dich nicht zerstört, macht Dich stärker". Ich denke, der Euro ist heute viel stärker als zuvor nach all den Krisen. Er ist wie ein Kind, das sehr schnell groß werden musste, weil es viele Härten erfahren hat.

 

Mehr Aufgaben für die Währungshüter

tagesschau.de: Hat das auch die Struktur der Institution verändert? Sehen Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die EZB heute anders?

Lagarde: Die Institution ist größer geworden als Folge einer neuen Mission, mit der wir nach der großen Finanzkrise beauftragt wurden. Das ist die Überwachung des Bankensystems, welches wir brauchen, damit wir unsere Geldpolitik auch in die Realwirtschaft übertragen können.

Als Folge hat die EZB heute mehr Verantwortung. Es ist die Geldpolitik mit dem Ziel der Preisstabilität auf der einen Seite. Aber es geht auch um die Überwachung der Banken und die Gesundheit des Bankensystems.    

tagesschau.de: Einige Kritiker sagen, die EZB habe zu viele Aufgaben. Über die Jahre hat sich der Auftrag vergrößert und verändert, manche Aufgaben sind auch gegensätzlich. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?

Lagarde: Ich denke, da gibt es keinen Konflikt. Es gibt keine Kompromisse zwischen Geldpolitik, also dem Ziel der Preisstabilität auf der einen Seite und Finanz-Stabilität auf der anderen Seite. Und wir haben auch unterschiedliche Werkzeuge, um beide zu adressieren. Beide müssen zusammenkommen, denn es gibt keine Preisstabilität ohne Finanzstabilität. Wir werden keine Kompromisse akzeptieren und die Instrumente verwenden, die jeweils am besten geeignet sind.

Ich glaube auch nicht, dass unser Mandat zu umfassend ist. Denn unser Mandat heißt Preisstabilität. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir auch berücksichtigen, wie sich die Wirtschaft entwickelt, welche Risiken am Horizont auftauchen und wie wir ihnen begegnen können.

Und zu den Kritikern, die sagen, der Klimawandel zum Beispiel sollte nicht auf unserer Tagesordnung stehen, sage ich, dass der jetzt auch Teil der Wirtschaft ist und zu den Risiken gehört, die am Horizont auftauchen.

Nun werden die Kritiker sagen, um den Horizont muss sich die EZB nicht kümmern, ihre Aufgabe sind die kurzfristigen Themen. Leider kommt der Horizont jedes Jahr näher und näher. Und wir müssen auch darauf achten, ohne von unserem Mandat der Preisstabilität abzuweichen.

Hohe Identifikation mit dem Euro

tagesschau.de: Sie haben es gesagt - wenn wir uns den gesamten Zeitraum von 25 Jahren anschauen, dann ist das Ergebnis der durchschnittlichen Inflationsrate sehr beeindruckend. Wenn wir uns nur die vergangenen Jahre anschauen, dann ist das nicht der Fall. Sind Sie und der EZB-Rat enttäuscht, dass diese Situation entstanden ist?

Lagarde: Die ganze Welt hat einen unglaublichen massiven Schock erlebt. Anfang des Jahres 2020, also vor noch gar nicht so langer Zeit, kam die Wirtschaft ins Stocken. Teilweise stoppte sie auch ganz, viele Menschen blieben zu Hause. Das hat einen signifikanten Schock für uns alle ausgelöst. Die Angebots-Seite und die Nachfrage-Seite waren völlig gestört, ebenso Ersparnisse und Investitionen.

Und dann kam obendrauf auch noch die schreckliche und inakzeptable russische Invasion und der Krieg gegen die Ukraine, gefolgt von einer Energiekrise, die durch die russische Regierung ausgelöst wurde. Als Folge gingen die Preise hoch, und die Inflation stieg signifikant auf ein Niveau, das wir seit Jahrzehnten nicht gesehen haben. Wir mussten uns sehr schnell auf diese Situation einstellen.

Und wenn Sie mich fragen, ob ich damit zufrieden bin, wo wir jetzt stehen: Nein, ich bin nicht zufrieden. Ich werde erst dann zufrieden sein, wenn wir unser Ziel erreichen, also mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent haben. Wir sind noch nicht da. Aber wir werden es schaffen.

Die Idee vom gemeinsamen Europa

tagesschau.de: Die EZB ist eine europäische Institution und damit sehr wichtig für die Idee eines gemeinsamen Europa. Inwiefern haben die EZB und der Euro dieses Vorhaben vorangebracht?

Lagarde: Die Europäische Währungsunion und die Europäische Zentralbank wie auch das gesamte Eurosystem, das mit ihr zusammenarbeitet, haben bei den Europäern zu einer einzigartigen Identifikation geführt, nämlich rund um den Euro.

Wir sprechen verschiedene Sprachen. Mein Deutsch ist nicht sehr gut, Ihr Französisch mag nicht perfekt sein, aber wir haben dieselbe Währung in unserer Tasche. Wir haben dieselben Banknoten, dieselben Münzen und wir wickeln unsere Zahlungen in derselben Währung ab.

In diesem Sinne wurde die europäische Einheit geschaffen und ist real. Und sie wird nicht mehr verschwinden. Wenn ich meine Kinder oder Enkel frage, was sich auf ihren kleinen Sparkonten befindet, dann sagen sie: Euro natürlich. Sie kennen es gar nicht anders. Und das ist ein Element einer sehr starken Einheit unter uns Europäern. Die ist sehr kostbar. Wir müssen sie schützen und auf sie aufpassen.

"Es wird weiterhin Banknoten geben"

tagesschau.de: Lassen Sie uns zum Schluss auf die Zukunft schauen: Wo sehen Sie die wesentlichen Herausforderungen für die EZB in den kommenden Jahren?

Lagarde: Ich denke, wir müssen uns weiter anpassen. Wir wollen nicht das weggeben, was wir geschaffen haben. Es wird also weiterhin Banknoten geben. Aber wir müssen vorsichtig überlegen, was als nächstes passiert. Und wenn wir, wie so vieles andere auch, in ein digitales Zeitalter eintreten, ganz zu schweigen von einer von künstlicher Intelligenz beeinflussten Gesellschaft, die meiner Meinung nach auch bedrohliche Seiten hat, müssen der Euro und das Zentralbank-Geld darauf vorbereitet sein.

Aus diesem Grund arbeiten wir wirklich hart daran, dass wir im Bedarfsfall einen digitalen Euro liefern können und sicherstellen, dass es keine andere Währung auf der Welt gibt, die den Platz des Euro einnimmt, und es keine andere Institution gibt, die den Platz der Europäischen Zentralbank einnimmt. Denn sie ist ein Element europäischer Souveränität.

Das Interview führte Klaus-Rainer Jackisch, hr.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 24. Mai 2023 um 22:15 Uhr.