Gesteckte Ziele nicht erreicht Deutsche Behörden verzetteln sich bei Digitalisierung
Ob Kfz-Zulassung oder Finanzamt: Deutschland hinkt bei der Digitalisierung der Verwaltungen den eigenen Zielen hinterher. Besserung ist nicht in Sicht. Ein mögliches Vorbild könnte Indien sein.
Ihre Tage im Büro verbringt Carina Lecking zum großen Teil damit, Zahlen abzutippen - seitenweise, vom Papier in den Computer. Die Steuerfachwirtin arbeitet im Finanzamt Tauberbischofsheim in Baden-Württemberg. Sie wird immer dann tätig, wenn Steuerpflichtige in andere Bundesländer weg- oder von dort zuziehen. Dann wird eine "Übergabe" fällig.
"Dazu müssen wir zunächst mit dem empfangenden Finanzamt Kontakt aufnehmen und die Übernahmebereitschaft herstellen. Dann teilen sie uns eine Steuernummer mit", sagt ihr Chef Simon Veser. Da es in Deutschland keine dauerhaften einheitlichen Steuernummern gibt, vergibt jedes Finanzamt bei Übernahme eines Steuerpflichtigen eine neue. Dann werden alle Unterlagen in allen Abteilungen des abgebenden Finanzamtes zusammen gesammelt: von der Kasse, der Lohn- und Umsatzsteuer-Abteilung. Die meisten liegen nur digital vor. Für die Übergabe werden sie ausgedruckt, in dicke Briefumschläge gesteckt und verschickt.
Steuersysteme sind nicht kompatibel
Ist die Akte im neuen Finanzamt angekommen, wird sie dort nicht etwa eingescannt, sondern eingetippt. Der Steuerfall wird "neu aufgebaut", wie es im Finanzamt heißt. Eine Aufgabe, die qualifizierte Steuerbeamtinnen wie Lecking ausführen - jede falsch erfasste Zahl könnte unvorhersehbare Probleme verursachen.
Das alles dauert: Für einen durchschnittlichen Steuerpflichtigen vergehen insgesamt 20 Arbeitsstunden. Drei Wochen lang ist die Akte nicht verfügbar, der Steuerpflichtige kann keine Anträge stellen und bekommt keine Zahlungen, wenn ihm welche zustehen.
Das passiert nicht nur in Tauberbischofsheim, sondern überall in deutschen Finanzämtern. Zwar gibt es seit 2001 das bundesweit einheitliche System ELSTER, mit dem Steuerpflichtige ihre Erklärungen online abgeben können. Doch dahinter werkelt jedes Bundesland weiter für sich. Die Systeme sind nicht kompatibel. "Innerhalb von Baden-Württemberg können wir mit wenigen Klicks ohne Akte und ohne Papier den Fall abgeben", sagt Finanzamtschef Simon Veser, "mit anderen Bundesländern ist das noch nicht der Fall. Allerdings wird daran gearbeitet."
Und zwar seit 1991. Seitdem wollen Bund und Länder die Systeme der Finanzämter vereinheitlichen. Mehr als zwei Milliarden Euro wurden investiert. Doch mittlerweile rechnen Experten damit, dass die Übergabe von Steuerakten in andere Bundesländer erst 2029 funktionieren könnte. Das Bundesfinanzministerium verweist auf die Zuständigkeit der Länder. Federführend bei der Software der Finanzämter ist Nordrhein-Westfalen. Trotz mehrerer Nachfragen des ARD-Magazins plusminus kommt von dort keine Antwort.
Kfz-Zulassung funktioniert online oft nicht
Die Finanzämter sind nicht die einzige Baustelle. Überall klemmt es bei der Digitalisierung, auch beim Thema Kfz-Zulassung. Seit Ende 2023 sollte das i-Kfz flächendeckend in Betrieb sein, das Online-Anmeldeverfahren für Fahrzeuge. Doch in 50 Landkreisen und kreisfreien Städten funktioniert es nicht, darunter große Städte wie Bremen, Gelsenkirchen, Lübeck, Magdeburg oder Rostock.
Für Fuhrparkmanagerin Sheila Schmidt vom Team Logistik, einer großen Spedition aus der Nähe von Kiel, ein Problem. "Es ist Zeitaufwand, wir bereiten alles vor, dann fährt erst der Zulassungsdienst zur Zulassungsstelle, holt das wieder ab. Das kann bis zu fünf Tage dauern." Und es ist teuer. Die Spedition hat fast 500 Fahrzeuge. Letztes Jahr ist die Firma umgezogen; allein die Ummeldung von Zugmaschinen und Anhängern hat 10.000 Euro gekostet.
"Uns wurde geschrieben, dass aktuell die Schnittstelle zum Großkundendienst noch nicht funktioniert", sagt Speditionschef Christian Witt, "aber es wurde uns nicht mitgeteilt, wann es funktionieren soll." Das Problem auch hier: Es fehlt eine zentrale Lösung. Jede Zulassungsstelle muss die Software für i-KfZ selbst installieren und bereitstellen.
Gemeinden digitalisieren sich eigenständig
Dabei hätte der Bund die Kfz-Zulassung zentral für alle über das Kraftfahrtbundesamt anbieten können. "Dem Bürger ist es doch herzlich egal, wo er sein entsprechendes Fahrzeug anmeldet. Er bekommt das ja gar nicht mit, wenn er vor seinem Laptop sitzt", sagt Sachsens Digital-Beauftragter Thomas Popp. "Deshalb ist es wichtig, wenn wir bundesgesetzliche Regelungen haben, ein entsprechendes einheitliches Verfahren aufzusetzen."
Genau das aber war nie geplant. Ein Geburtsfehler des Online-Zugangsgesetzes, das die damalige Bundesregierung 2017 beschlossen hat. Das Ziel: Gänge zum Amt sollten bis Ende 2022 überflüssig werden. Jeder sollte alles online erledigen können. Für 85 Prozent der Dienstleistungen - von der Geburtsurkunde bis zum Führungszeugnis - sind Gemeinden und Landkreise zuständig. Wegen der kommunalen Selbstverwaltung beginnt das große Kleinklein: Mehr als 11.000 Kommunen und 300 Landkreise beginnen eigenständig, sich zu digitalisieren. Statt eine gemeinsame Plattform aufzusetzen, wurden sogenannte Fachverfahren, also einzelne Dienstleistungen, einzeln digitalisiert. Davon gibt es 30.000.
"Es ist wirklich beängstigend"
"Damals habe ich Diskussionen geführt mit Kommunen und Landkreisen. Die wollten auf keinen Fall, dass jemand in ihre Autonomie eingreift", erinnert sich Digital-Berater Thomas Meuche von der Hochschule Hof, "inzwischen beten die kleineren Gemeinden, dass ihnen jemand eine zentrale Lösung anbietet, die sie nutzen können."
Denn die Digitalisierung hat sich als schwierig und teuer erwiesen. Bis heute sind die Ziele des Online-Zugangsgesetzes nicht erreicht. In Bayern (45 Prozent) und Hamburg (48 Prozent) ist erst knapp die Hälfte der Verwaltungsdienstleistungen digital verfügbar. Es folgen Hessen, Berlin und Thüringen. Im Rest des Landes ist nur ein Drittel digitalisiert, Schlusslichter sind Brandenburg und das Saarland mit 31 Prozent. Deutschland hat die Digitalisierung verschlampt. Meuche: "Wir sind dermaßen weit hinterher in dem ganzen Thema, dass es inzwischen für mich wirklich beängstigend ist."
Fast alle Behördengänge in Indien online
Wie es besser geht, zeigt Indien. 1,2 Milliarden Menschen erledigen hier fast alle Behörden-Vorgänge per Handy. Die wichtigste App heisst Aadhaar, zu Deutsch: Fundament. Über sie bekommt jeder eine eindeutige ID, um sich online zu identifizieren. 99 Prozent der Erwachsenen haben sie, denn es gibt keine Alternativen mehr. Alle Dienstleistungen bauen darauf auf. "Die Kfz-Anmeldung passiert online, sie können online Reisepässe beantragen", sagt Shalini Mathur, die bei der Firma TCS in Delhi die Digitalisierung mit vorantreibt. "Alle grundlegenden Dienstleistungen sind online. Wir gehen doch nicht mehr auf diese Ämter."
Weil die Funknetze gut ausgebaut sind, funktioniert das sogar in entlegenen Bergdörfern. Führerscheine sind jetzt digital im Handy gespeichert, dazu Krankenakten, Unterlagen zu Steuern und Sozialversicherung. Es gibt eine Plattform für alle Behörden - nicht Dutzende wie in Deutschland.